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35 Prozent Originaltrümmer

Der Bericht einer Frau vom Ende des Zweiten Weltkriegs, ein verfilmter Bestseller, wurde jetzt überprüft: Es taugt nur begrenzt als historisches Dokument. Nur 35 Prozent der "Anonyma"-Tagebücher sind echt.


Von Maximilian Senff


Untergang, Chaos, Wiedergeburt. Diese Säulen tragen das 2003 unter dem Pseudonym "Anonyma" veröffentlichte Buch "Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945". Aus subjektiver, weiblicher Sicht gibt das Werk Einblicke in den Berliner Kriegsalltag am Ende der NS-Diktatur und schildert die Eroberung der Stadt durch die Rote Armee - samt Vergewaltigungen. Nun konnte die Frage nach der Authentizität des Werks genauer geklärt werden: Die Tagebücher wurden von der Journalistin Marta Hillers (1911-2001) selbst verfasst, historisch authentisch sind sie aber nur teilweise.


Bereits kurz nach der Buchveröffentlichung wurde Marta Hillers als die anonyme Autorin enttarnt. Es entstand seinerzeit eine Debatte darüber, wie echt dieses historische Dokument wirklich sei. Der Autor Kurt Marek war mit Hillers befreundet - eine Zusammenarbeit wäre nichts Abwegiges gewesen. 2016 übergab sein Sohn Max Marek, auf den vor ihrem Tod geäußerten Wunsch Hillers' hin, die Originaltagebücher sowie eine umfangreiche Korrespondenz rund um deren Veröffentlichung an das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. In einem Aufsatz für die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte hat die IfZ-Historikerin Yuliya von Saal die Aufzeichnungen nun umfassend ausgewertet.


Die Originaleinträge wurden in drei Schulheften festgehalten. Von diesen ausgehend erstellte Marta Hillers ein Typoskript. Aufbauend darauf entstand die publizierte Fassung. Die deutsche Erstausgabe kam bereits im Jahr 1959 bei Kossodo heraus, einem kleinen Genfer Verlag; im Jahr 2003 wurde das Buch in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Anderen Bibliothek" neu aufgelegt. Das Buch wurde sehr erfolgreich und auch 2008 mit Nina Hoss in der Hauptrolle verfilmt.


Auffällig ist, dass aus der 121-seitigen Transkription ein doppelt so viele Seiten umfassendes Buch wurde. Wurden hier nur verkürzte Aufzeichnungen ausformuliert? Oder wurden diese ganz neu aus der Distanz erinnert und literarisch verarbeitet? Von Saals Auswertungen zeigen, dass die Originale in ihrer äußeren Form dem kolportageartigen Inhalt der Buchausgabe sehr nah kommen. Dennoch weisen Hillers' Aufzeichnungen viele Eigentümlichkeiten auf, die sich so im Buch nicht immer finden: Eine willkürliche Syntax, Berlin-typische Sprüche und eine saloppe Ausdrucksweise. Der Blick auf die Originale lässt vermuten, dass Kurt Marek diese nie selbst gesehen hat. Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen der äußeren Form der Aufzeichnungen und ihrer Beschreibung durch den Autor. Im Vorwort der deutschen Buchausgabe bezeichnet Marek die Aufzeichnungen etwa als "lose(n) Kritzelzettel".


Was nachträglich literarisiert wird, taugt nur eingeschränkt als historische Quelle

Möglich ist weiterhin, dass Marek an der Vorbereitung des Buchmanuskripts beteiligt war. Aufgrund der dem IfZ vorliegenden Dokumente ist es allerdings unwahrscheinlich, dass er Hillers' Text in seiner eigenen Manier stark redigiert oder umformuliert hat. Inhaltliche Abweichungen, die zwischen der amerikanischen und deutschen Ausgabe auffallen, sind allein auf Marta Hillers zurückzuführen. Da sie ihr Agent von den USA aus vertrat, lagen ihm die Manuskripte in englischer Sprache vor. Diese wurden teilweise als Grundlage für die Veröffentlichungen in anderen Sprachen verwendet, während Hillers für Deutschland eine eigene Fassung erstellte.


Das Bewusstsein eines Autors oder einer Autorin prägt maßgeblich das Schreiben. Ein Tagebuch stellt keine objektive zeitgenössische Quelle dar. Radikale Subjektivität ist eines der wichtigsten Merkmale dieses Genres. Geht diese Subjektivität bei der Nachbearbeitung verloren, wandelt sich ein authentisches Tagebuch in ein literarisches. Vergleicht man Marta Hillers' Buch und das Original, sind laut IfZ nur noch etwa 35 Prozent des publizierten Textes als authentisch zu bewerten.


Um die Anonymität der beschriebenen Personen zu wahren, wurden Orte, Namen und persönliche Eigenschaften geändert. Selbst Hillers' eigene Haarfarbe wurde verändert. Außerdem hat die Autorin Fehlinformationen, die damals in Berlin kursierten, im Nachhinein korrigiert - beispielsweise Gerüchte rund um den Selbstmord Adolf Hitlers.


Die reflexiven Passagen mit einem starken feministischen Akzent und Kritik an der Nazi-Männlichkeit hat Marta Hillers laut der Studie von Yuliya von Saal erst später für die Buchfassung ausgearbeitet. Einige Erlebnisse wurden durch fiktive Elemente verdichtet. "An diesen Stellen weichen Tagebuch und Buchfassung massiv voneinander ab, so zum Beispiel, wenn aus einem Zahnarztbesuch ein angstbesetzter Besuch beim Gynäkologen wird, um eine ungewollte Schwangerschaft auszuschließen." Wer also ein authentisches Zeitdokument aus den Trümmern Berlins lesen will, muss zu Marta Hillers' handschriftlichen Aufzeichnungen greifen, nicht zum literarisierten Tagebuch der "Anonyma".

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