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Als der Bremer Westen in Trümmern lag

Foto: Hans Köster / Staatsarchiv Bremen

Als der Fernmelder im Bunker eine Durchsage macht, schwant Erika Groll nichts Gutes. „Wir hörten ‚Enschede, Kurs Ost' - da wussten wir, dass wir dran waren", sagt die heute 91-Jährige. Die Leute in Bremen, sie sind genervt vom Krieg. Alleine im August 1944 gab es bis zu diesem Angriff bereits 17 Fliegeralarme, dazu wurde die Stadt zweimal Ziel von kleineren Bombardements. Als an diesem Tag die britischen Flieger ihre tödliche Fracht abwerfen, ist aber vieles anders. Bereits um 17.12 Uhr gab es am selben Tag einen ersten Alarm, ein Angriff bleibt aber aus. Um 22.32 Uhr ertönt der Alarm für Luftgefahr - noch kann niemand erahnen, was Bremen bevorsteht. Für die damals 16-jährige Erika Groll und ihre Mutter beginnt der zuvor zigfach absolvierte Ablauf. Die Handtasche mit Lebensmittelmarken und Silberbesteck gefüllt, geht es über die Tarmstedter Straße und die Plantage über die Findorffstraße zum Bunker - vermutlich zum Hochbunker an der Admiralstraße. Kurz darauf beginnt das Bombardement des Bremer Westens. „Wir saßen im Bunker und es war keine Panik. Es hat keiner was gesagt. Ich denke, es war Todesangst", erinnert sich Groll.

Dass der Angriff diesmal anders ist, daran erinnert sich auch Ingeborg Senft. Mit ihrer Familie lebt die damals 20-Jährige in der Derfflingerstraße in Walle. Als der Alarm ertönt, macht sich die Familie auf den Weg zum Bunker - und wartet. „Wir haben gemerkt, wie der Bunker bebte." Relativ schnell habe sie mitbekommen, dass dieser Angriff größer als alle bisherigen und weiteren sein sollte.


Kein anderer Bombenangriff auf Bremen war so schwer wie der 132. Luftangriff in der Nacht vom 18. auf den 19. August 1944. Um 23.56 Uhr fiel die erste Bombe, um 0.30 Uhr die letzte. 108 000 Stabbrand- und 10 800 Phosphorbrandbomben, 2323 Sprengbomben und 68 Luftminen gingen auf die Stadt nieder, insgesamt laut Bomber Command über 1100 Tonnen. Dabei kamen 1059 Menschen ums Leben, das sind knapp 27 Prozent aller Bremer Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg. Am stärksten betroffen war der Bremer Westen. In der Hafengegend, in Utbremen sowie weiten Teilen von Findorff, dem Stephaniviertel und Walle stand kaum noch ein Stein auf dem anderen. Zerstört wurden unter anderem die Stephanikirche, das damals noch an der Schlachte gelegene Focke-Museum, die Marienkirche und die Wilhadikirche in Walle sowie zehn Hotelbauten in der Innenstadt. Mit 25 000 Wohnungen ging ein Viertel des Gesamtbestands verloren, 49 100 Menschen wurden über Nacht obdachlos. Der Angriff sei der erste auf Bremen gewesen, „bei dem infolge eines außerordentlich stark massierten Abwurfes von Brandbomben ein Flächenbrand und Feuersturm eintrat", lautete das Resümee der Feuerwehr.


Über die Anzahl der einfliegenden Bomber gibt es abweichende Angaben. In der Schlussmeldung des Polizeipräsidenten in seiner Funktion als Luftschutzleiter für Bremen und Delmenhorst war zunächst von etwa 160 Maschinen die Rede, handschriftlich wurde diese Zahl später nach oben auf 500 korrigiert. Diese Angabe findet sich auch 1951 in der Bremen-Chronik von Fritz Peters wieder, bis heute kursiert sie in verschiedenen Werken zum Kriegsgeschehen. Doch in Wahrheit war diese Zahl stark übertrieben, womöglich setzte man sie in Relation zu den rasant gestiegenen Opferzahlen. Tatsächlich waren an dem Angriff laut Kriegstagebuch des Bomber Commands lediglich 274 Bomber beteiligt. Eine Größenordnung, die auch Herbert Schwarzwälder in seinem vierbändigen Standardwerk zur Geschichte Bremens nennt. Gegen die Bomber gab es keine effiziente Gegenwehr, weder durch Flugabwehrkanonen noch durch Jäger der Luftwaffe. Die Angreifer büßten nur eine Maschine ein. Das lag nicht zuletzt an einer Weiterentwicklung im Luftkrieg: Immer öfter warfen die Alliierten vor Luftangriffen dünne Stanniolstreifen ab. Durch die Reflexionen konnten die Maschinen nicht mehr exakt geortet werden, das erschwerte die Verteidigung. Der frühere Staatsrat Klaus Franzen, damals als Luftwaffenhelfer in der Stellung Lehesterdeich eingesetzt, berichtet in seinen Erinnerungen von der völligen Machtlosigkeit seiner Einheit. Trotz gewaltigen Munitionsverbrauchs sei kein einziger Abschuss eines Feindfliegers geglückt. „Die Angriffshöhe von 8000 Metern war für unser Kaliber zu hoch, die Streuung zu groß." Vom Himmel holte seine Einheit ironischerweise nur einen deutschen Nachtjäger, der in geringerer Höhe flog und dessen Einsatz nicht gemeldet war.

Das Tückische: Die Gefahr war keineswegs vorbei, als die alliierten Bomber nach gut einer halben Stunde abdrehten. Nur für einen kurzen Augenblick konnte man sich der Illusion hingeben, das Feuer sei vielleicht unter Kontrolle zu bringen. Bei einer Fahrt durch das betroffene Gebiet hatte ein Luftschutzoffizier etwa eine dreiviertel Stunde nach Ende des Angriffs den Eindruck, die zahlreichen Brandherde östlich des Waller Rings loderten nicht mehr so stark wie vorher. Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen - es handelte sich nur um das Übergangsstadium zum Flächenbrand.


Tatsächlich war es die Ruhe vor dem Sturm, die Ruhe vor dem Feuersturm. Wie das Verhängnis seinen Lauf nahm, ist dem Polizeibericht zu entnehmen: „Schon nach Minuten setzt durch das Zuströmen frischer, sauerstoffhaltiger Luft das 3. Stadium, der Feuersturm, ein und mit ihm ist dann der Flächenbrand nicht mehr aufzuhalten." Nach Auffassung der Luftschutzpolizei gab es kein Gegenmittel gegen die Feuersbrunst. Nur bei massiver Bekämpfung aller Brandherde gleich zu Beginn wäre das Unheil abzuwenden gewesen. Eine absolute Illusion, wie aus der Nachbetrachtung hervorgeht: „Da aber ausreichende Feuerlöschkräfte für diese Vielzahl an Bränden niemals zur Verfügung stehen, jedenfalls nicht rechtzeitig und nicht schlagartig eingesetzt werden können, so wird nach menschlichem Ermessen das 2. und 3. Stadium nicht zu verhindern sein."


Bereits zehn bis zwölf Minuten nach Angriffsbeginn waren fast sämtliche Telefonverbindungen in den Bremer Westen unterbrochen. Die Feuerwehr konnte sich deshalb nur sehr schwer ein Bild der Lage machen und die Einsatzkräfte koordinieren. Unter Lebensgefahr mussten sich die Helfer einen Weg in das Flammeninferno bahnen - und oft genug wieder kehrtmachen, weil an ein Weiterkommen nicht zu denken war. Die einlaufenden Meldungen ließen unterdessen keinen Zweifel daran, dass es sich um eine „Katastrophe größten Ausmaßes" handelte: Der Bremer Westen brannte lichterloh. Genau das war von den alliierten Luftkriegsstrategen auch so beabsichtigt. Von einem „successful raid, good concentrated fires being left burning" („erfolgreicher Angriff, viele Brände sind entstanden"), berichten die Aufzeichnungen einer alliierten Bomberstaffel. „Target was burning well and could be seen 100 miles at 6000 feet on homeward route" („Das Ziel hat gut gebrannt. Die Feuer waren auch noch 160 Kilometer entfernt von Bremen in einer Höhe von 1800 Metern sichtbar").


Völlig unvorbereitet traf das Inferno die Bremer nicht. Bereits unmittelbar nach dem Hamburger Feuersturm im Juli 1943 mit seinen 34 000 Todesopfern hatten die Behörden detaillierte Evakuierungspläne für den Katastrophenfall ausgearbeitet. Doch der ließ vorerst auf sich warten. Seit Dezember 1943 hatte relative Ruhe geherrscht, erst im Juni 1944 setzten wieder Großangriffe ein. Zwei Monate später dann das lange befürchtete Szenario: Die Kombination von Spreng- und Brandbomben entfachte den Feuersturm überhaupt erst, an der richtigen Mischung hatten die Experten lange getüftelt. Unter anderem in Dugway Proving Ground, einem Testgelände der US-Army in der Wüste von Utah, wo ein „German Village" norddeutsche Innenstadtbebauung simulierte.


Die meisten Leichen fanden sich laut Polizeibericht an den Straßenecken und auf dem Schutt. Die Erklärung dafür: Wer dem Feuersturm entkommen wollte, sei an den Straßenecken „von den Böen erfasst und zur Seite in die Häuser geschleudert worden". Doch selbst in den Bunkern und Luftschutzräumen war man seines Lebens nicht sicher, es drohte der Erstickungstod. Vom Feuer eingeschlossen waren die Bunker Admiral-, Zwingli- und Grenzstraße, nur unter größten Anstrengungen konnten sich die Löschtrupps zu ihnen vorarbeiten. Verschärft wurde die Lage noch dadurch, dass sich vor den noch nicht ganz fertiggestellten Bunkern Admiral- und Zwinglistraße große Mengen Bauholz entzündet hatten. Dramatisch auch die Situation am fast völlig zerstörten Panzenberg, einem Platz in Höhe der heutigen Straßenbahnhaltestelle Haferkamp. Im Luftschutzraum der Zigarettenfabrik Lesmona kamen 300 Menschen um.


Glück im Unglück hatte dagegen der frühere Bürgermeister Hans Koschnick, ein „Gröpelinger Jung'". Der damals 15-Jährige kehrte ausgerechnet am 18. August 1944 von einem Arbeitseinsatz bei Wilhelmshaven nach Bremen zurück. „Mittags kam ich an, nachts brannte der Bremer Westen", berichtete er. Sich glücklich schätzen konnte auch Adolf Meier, der die Stadt verließ, als Koschnick eintraf, um im Umland beim Ernten mitzuhelfen."Von Weitem hat es ausgesehen, als ob ein gewaltiger Feuerregen vom Himmel kam", schrieb er in sein Tagebuch. „Grauenvolle Dramen müssen sich abgespielt haben." Bei seiner Rückkehr fand er nur noch eine Geisterstadt vor. „Eine halbe Stunde wandert man zu Fuß durch den Schutt der Brandruinen. Manchmal weiß man nicht, wo eigentlich die Straße verlief."


Einen „ruchlosen Luftterror" konstatierten die Bremer Nachrichten am 21. August, den „anglo-amerikanischen Piraten" sei es einzig um die Zerstörung von Wohnraum gegangen. Doch offenbar galt es auch, Gerüchte in der Bevölkerung zu zerstreuen: „Sie haben keine neuen Waffen erfunden und keine neuen Sprengmittel, sondern sie haben mit denselben Flugzeugen wie bisher den Angriff geflogen und nur geglaubt, durch eine neue Finesse den Nihilismus ihrer Kriegführung noch um einige Grade steigern zu können." Von den deutschen Luftangriffen früherer Jahre auf England fiel natürlich kein Wort. Als legitime „Vergeltung" galten der Einsatz der „Wunderwaffe" V 1 seit Juni 1944 und die V 2-Angriffe ab September.


Für Erika Groll und ihre Mutter beginnt nach der Bombennacht eine Odyssee. „Am Morgen kamen wir aus dem Bunker raus und es war ein furchtbarer Gestank", erinnert sich die 91-Jährige. Obwohl es Sommer war, sei es wegen des Rauchs dunkel gewesen. Als sich Mutter und Tochter auf den Heimweg machen, sehen sie erstmals die Zerstörung. „Wir kamen zurück in die Tarmstedter Straße. Einige Häuser standen noch, einige nicht mehr". Auch das Drei-Familien-Haus, in dem die Familie lebte, wird zerstört. „Es war nichts mehr da. Das Haus war von oben bis unten ausgebrannt", erzählt Groll. Als sie sich auf den Weg zu einer Tante in der Neustadt begeben, begegnen sie dem nächsten Grauen: An der Kreuzung von Findorfftunnel und Falkenstraße entdeckt Erika Grolls Mutter von Phosphor verbrannte Leichen und versucht, den Blick ihrer Tochter davon abzuwenden. „Sie sagte nur ‚Guck da nicht hin'. Aber ich habe da gar keine Menschen mehr erkannt." Als Erika Groll und ihre Mutter auch nicht bei ihrer Tante unterkommen können, gehen sie zu einer Lagerstätte an der Langemarckstraße. Von dort werden die Ausgebombten noch am Abend in Lastwagen nach Worpswede gebracht und neu einquartiert. Erika Groll und ihre Mutter kommen beim Ortsgruppenleiter unter, wo sie sich erstmals seit dem Angriff waschen können. „Wir waren schwarz vor Rauch und wurden einfach nicht sauber." Nur eine Nacht halten es beide in Worpswede aus. „Wir wollten zurück nach Bremen", sagt Groll. Und die beiden haben Glück im Unglück: In der Großen Johannisstraße finden sie eine neue Wohnung, in der sie bis zum Kriegsende bleiben.


Die Familie von Ingeborg Senft verlässt auch erst in den frühen Morgenstunden den Bunker. Ihr erster Gedanke galt ihrem Zuhause an der Derfflingerstraße. Steht es noch? Ist von ihrem Hab und Gut noch was zu retten? Der Weg führt durch einen völlig zerstörten Stadtteil Bremens. „Es brannte eigentlich der ganze Westen." Leichen pflastern den Weg, aber Senft hat kaum Augen dafür. „Ich habe das alles kaum realisiert", sagt sie. Dann erzählt sie eine Anekdote von ihrer Großmutter. „Sie wollte unbedingt noch in ihrem Haus nach etwas suchen." Senft antwortet: „Oma, da findet man nichts mehr - da ist alles kaputt." Es stellt sich heraus, dass die Großmutter noch sechs Silberlöffel unter der zerstörten Treppe suchen wollte.


Bis sich das Leben wieder halbwegs normalisierte, sollte es noch etliche Tage dauern. Eine Woche nach dem Angriff nahm die Straßenbahn ihren Betrieb wieder auf, zwischen Bahnhof und Panzenberg wurde ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet. Für zahlreiche Straßen im Bremer Westen erübrigte sich die Postzustellung. Erstmals mussten die Bombenopfer in Massengräbern beigesetzt werden, am 27. August fand die Trauerfeier auf dem Osterholzer Friedhof statt.

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