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Ist doch nur ein Kuss - DER SPIEGEL - Kultur

Der erste Kuss. Zwei junge Männer knutschen in der zweiten Staffel der Netflix-Serie "Sex Education", in der es um Menschen geht, die ihre jeweiligen Sexualitäten entdecken. Erzählt werden Geschichten von schwulen, lesbischen, bisexuellen, queeren Menschen, die ihre Fetische zu akzeptieren lernen. In "Sex Education" wirken diese Geschichten nicht obskur, sondern werden als alltäglich präsentiert. Damit ist die Serie allerdings noch immer eine Ausnahme im internationalen Film- und Seriengeschäft.

Denn abseits nischiger Netflix-Produktionen bleiben queere Geschichten in Blockbustern immer noch Staffage und werden nur angerissen. Wenn überhaupt.

Ein zweiter Kuss. Ganz am Ende von " Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers", kaum eine Sekunde lang, zwischen zwei Frauen. Bereits im Vorfeld versprach der Regisseur J.J. Abrahams, dass "Star Wars" endlich seinen ersten queeren Kuss bekommen werde. Doch was dann zu sehen war, ließ viele queere Zuschauer irritiert zurück. Da war er nun also: ein abgerissener Kuss, ohne Kontext, ohne Vorgeschichte - ohne Substanz.

Queerbaiting wird ein solches Verfahren in den USA genannt. Es soll queere Menschen mit Anspielungen auf gleichgeschlechtliche Beziehungen in die Kinos locken, wo diese Geschichten dann aber nicht auserzählt werden. Sie bleiben flach, sind bestenfalls Abziehbilder heterosexueller Erzählungen - oder finden einfach gar nicht statt.

Dumbledore ist schwul?!

Seit dem Beginn der letzten " Star Wars"-Trilogie waren es stets die Hauptfiguren Finn und Poe, die mit Andeutungen im Film - aber auch durch Schauspieler und Regisseure - als zukünftiges Liebespaar inszeniert wurden. Daher auch die Aufregung, als ein queerer Kuss im Film versprochen wurde. Tatsächlich intim wurden schließlich aber zwei weibliche Nebencharaktere. Die versprochene queere Repräsentation bestand darin, zwei lesbische Frauen kurz vor die Kamera zu zerren - gerade lang genug, um überhaupt zu erkennen, dass sie sich küssen.

Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren ließ die Autorin J.K. Rowling auf Twitter wissen, die Figur Dumbledore aus ihren " Harry Potter"-Romanen sei schwul. In den Büchern findet sich freilich kein Hinweis darauf. Auch bei Rowling erschöpfte sich die große Ankündigung in einem Marketingtrick, der Schwule und Lesben auf ihre Bücher aufmerksam machen sollte.

Queere Menschen hatten in Filmen, Serien und Videospielen lange nicht den besten Stand. Mal waren sie Objekte des Spotts, mal dienten sie als Vorlage für Lästereien: "Der da ist schwul". Daran hat sich inzwischen zwar viel geändert: Queere Geschichten, Menschen, Beziehungen finden Eingang in populäre Medien. Allerdings mit Sicherungsmechanismen versehen, die sie einordnen, in Schablonen pressen und erneut marginalisieren - wohl aus Angst, das Mainstream-Publikum zu verschrecken. Das sexuelle Verlangen zwischen zwei Männern wird lieber zur "Bromance" heruntergeregelt.

Universelle Liebesgeschichten

Auch dezidiert queere Geschichten werden für ein heterosexuelles Publikum gerahmt, wie etwa die schwule Lovestory des Erfolgsfilms "Call Me By Your Name". Zwar erzählt der Film von zwei Männern, die sich begehren. In Interviews hoben die Filmemacher aber auf das Narrativ ab, es handele sich eigentlich um eine universelle Liebesgeschichte.

Dass es Erfahrungen gibt, die nur queere Menschen machen können, dass daraus ein anderer Umgang mit Liebe, Sex und Beziehungsleben resultiert, der nicht zuletzt geprägt ist von der langen Zeit der Marginalisierung queerer Liebe in der Gesellschaft - all das blendeten die Macher aus. Auch das eine Art von Queerbaiting: Die Geschichte zweier Männer, die sich lieben, wird in Wahrheit zur Folie für die Sehnsüchte eines Heteropublikums.

Dennoch: Gerade in Serien werden immer öfter queere Geschichten erzählt, so wie in "Sex Education", " Queer Eye" und " Transparent". In einem System, das per Abonnement bezahlt wird und nicht pro Produktion, können leichter diverse Lebenswelten präsentiert werden. Die Angst der Macher, ein Massenmarkt könnte abgeschreckt werden, ist hier nicht so groß. So entstehen durch die Streamingdienste neue Narrative für marginalisierte Menschen und Geschichten.

In einer Serie wie "Sex Education" muss keine heteronormative Schablone mehr mit queerer Narration gefüllt werden. Die Figuren haben hier Geschichten, Motivationen, Probleme, Freuden - und sie sind dabei deutlich queer. Die sonst so beliebte Technik, Charaktere aus dem LGBT-Spektrum wegen ihrer Sexualität leiden zu lassen, hat hier keinen Platz. Wo " Brokeback Mountain" noch in der Unmöglichkeit des Auslebens einer schwulen Liebe enden musste, dürfen die Figuren hier auch ihr Glück finden.

Ein dritter Kuss. Im Mai 2020 soll das heiß erwartete dystopische Action-Videospiel "The Last of Us 2" erscheinen. In einem Trailer sieht man in Großaufnahme, wie die Protagonistin Ellie eine andere Frau küsst. Ein Novum in der Games-Welt der großen Blockbuster. Es sind nun viele Augen auf dieses Spiel gerichtet. Wird es tatsächlich eine queere Geschichte erzählen? Oder ist der Kuss wieder nur ein an das männliche Gamer-Publikum gerichteter Gimmick?

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