Mathieu von Rohr

Reporter, Korrespondent, Paris

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Artikel

Im Innern des Weltwissens

Wikipedia ist die größte Enzyklopädie der Welt und ein gigantisches Projekt: Das Menschheitswissen zusammengetragen und korrigiert von allen, die es nutzen. Doch hinter den Kulissen dieser Utopie arbeitet eine kleine, eingeweihte Schar, und sie führt erbitterte Kämpfe um die Wahrheit.

Wladyslaw Sojka hatte ein Wort geändert, ein Wort in Wikipedia. Die Schlacht, die er damit auslöste, sollte zweieinhalb Monate dauern und eine auch für ihn selbst überraschende Gehässigkeit annehmen, obwohl er daran keineswegs unschuldig war.

Es begann damit, dass Sojka eines Nachts den ersten Satz im Wikipedia-Artikel über den Donauturm in Wien abänderte. Aus "Der Donauturm ist ein Aussichtsturm" machte er "Der Donauturm ist ein Fernseh- und Aussichtsturm".

Sojka, 34 Jahre alt, wohnhaft in Lörrach und Versicherungsberater, hatte sich diesen Schritt gut überlegt. Er sagt, es gebe wenige Menschen, die so viel über Fernsehtürme wüssten wie er selbst. Sie faszinieren ihn, seit er ein kleiner Junge war, er besitzt Bücher über Türme, Bildbände mit Türmen, Fotos von Türmen. Auf seiner Hochzeitsreise machten er und seine Frau einen Hubschrauberflug um den CN Tower in Toronto, seinen Lieblingsturm, in ihrem Schlafzimmer hängt davon ein Bild in Postergröße, das er selbst geschossen hat.

Wer, wenn nicht er, hatte also das Recht zu beurteilen, ob eine 252 Meter hohe Stahlbetonsäule in Wien als Fernsehturm zu bezeichnen ist?

Schon am nächsten Morgen sah er sich jäh gestoppt. Die österreichische Nutzerin "Elisabeth59" hatte seine Änderung rückgängig gemacht und notiert: "Donauturm ist definitiv kein Fernsehturm, wurde als Aussichtsturm konzipiert und gebaut."

Sojka ärgerte sich sehr, änderte den Artikel wieder und schrieb: "wenn man keine ahnung hat, einfach mal finger still halten, selbstverständlich ist der donauturm ein Ffernsehturm."

So begann eine der absurdesten Auseinandersetzungen, die in Wikipedia je geführt wurden, sie füllt Seiten voller Beleidigungen und Belehrungen und erreichte eine Länge von mehr als 600 000 Zeichen, so viel wie ein Buch. Sehr bald ging es nicht mehr um den Donauturm. Es ging um die Wahrheit und darum, wer sie gepachtet hat.

Wer in Wikipedia die Wahrheit gepachtet hat, ist eine wichtige Frage. Wikipedia ist die größte Enzyklopädie der Welt, bald könnte sie die einzige verbliebene sein. Der gedruckte Brockhaus, Microsofts CD-Rom-Lexikon Encarta sind eingestellt, die Encyclopædia Britannica hat wirtschaftliche Probleme. Die Zeit der dicken Lexikonbände im Bücherregal ist vorbei, und auch die Zeit der Lexikonredaktionen, die auswählen, gewichten, einordnen. Diese Aufgabe ist an das Kollektiv der Internetnutzer übergegangen.

Wikipedia erscheint wie ein wahr gewordenes Utopia: Das Weltwissen zusammengetragen von allen, verwaltet, ergänzt und korrigiert von allen, weil Wissen keine Ware sein darf, sondern frei für alle sein muss. Mehr als eine Million Artikel stehen in der deutschen Ausgabe von Wikipedia, Tausende Nutzer greifen jede Sekunde darauf zu, jede Minute werden rund 20 Änderungen an den Artikeln vorgenommen. Es lässt sich in Echtzeit beobachten, wie Wissen produziert, wie um Wahrheit gerungen wird und wie weh das manchmal tut.

Das Wunder von Wikipedia ist, wie aus Gezänk Wissen entsteht. "Wikipedia ist keine technische Innovation, sondern eine soziale", schrieb einst Wikipedia-Gründer Jimbo Wales.

Vom Streit um den Donauturm haben die allermeisten der Millionen Wikipedia-Nutzer nie etwas mitbekommen. Sie nutzen die Online-Enzyklopädie, um schnell etwas nachzuschlagen, sie wissen wohl auch, dass nicht alles in Wikipedia stimmen muss. Vom Leben hinter den Artikeln aber ahnen sie wenig, vom Blut, vom Schweiß, von den Tränen, die nur wenige Klicks entfernt vergossen werden, in den Hinterzimmern des Projekts.

Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch zu ihr beitragen, dass sie ein Produkt von "Schwarm-Intelligenz" sei. Die deutsche Wikipedia hat mehrere hunderttausend angemeldete Nutzer. Aber nach einer Untersuchung des Frankfurter Soziologen Christian Stegbauer bearbeitet mehr als die Hälfte derer, die sich neu anmelden, kein einziges Mal einen Artikel. Ein halbes Prozent aller aktiv gewordenen Nutzer ist für fast zwei

Drittel

der Editierungen verantwortlich - ein Kreis von nicht einmal 2000 Personen.

Wikipedia könnte nicht funktionieren ohne diesen harten Kern, die Wikipedianer. Es ist eine Community, die in den Hinterzimmern des Projekts lebt, in den Diskussionsseiten. Nur ein Zehntel bis ein Hunderstel der neuen Teilnehmer verirrt sich je dorthin.

Wenige hundert Nutzer bilden den innersten Kreis, viele von ihnen kennen einander persönlich. Nicht nur aus den Diskussionsforen, nicht nur durch ihre Benutzerseiten, auf denen sie sich ausführlich vorstellen; viele nehmen an den Wikipedia-Stammtischen teil, die es im ganzen Land gibt.

Die Geschichte mit dem Donauturm, das gibt Wladyslaw Sojka zu, sei in einer Weise eskaliert, die auch in Wikipedia ihresgleichen suche. Er finde sich halt in dem Thema wieder, Unsinn stehenzulassen falle ihm schwer. "Außerdem habe ich auch sonst ein relativ großes Durchhaltevermögen."

Er ist ein athletischer Mann mit Kurzhaarschnitt. Von der braunen Sofaecke in seiner Wohnung in Lörrach sieht er auf die Burg Rötteln, gegenüber am Hügel, vor fast sechs Jahren schrieb er seinen ersten Wikipedia-Artikel über sie. Seither verbrachte er jede Woche zehn Stunden damit, er sagt, er habe mehr als 400 Artikel geschrieben, mehr als 1000 Bilder hochgeladen und in mehr als 7000 Artikeln "Duftmarken hinterlassen". Ein fleißiger Mitarbeiter, einer, der ein Wikipedia-Portal für die Stadt Basel betreute und 50 Fernsehturmartikel schrieb.

Das erste Mal hatte er vor drei Jahren versucht, den Donauturm zum Fernsehturm zu erklären. Er war gestoppt worden und hatte die Sache auf sich beruhen lassen. Diesmal wollte er kämpfen.

"Donauturm ist kein Fernsehturm. Das ist ein Fakt, ein meinetwegen österreichischer Fakt!", schrieb "extrapurifier". Dies sei ein Argument, antwortete Sojka, das "dem Niveau einer gebückten Ameise entspricht".

Seine Gegner, zu Beginn vor allem erzürnte Österreicher, verwiesen darauf, dass der Donauturm nur Radio, aber kein Fernsehen ausstrahle und als Aussichtsturm für eine Gartenausstellung erbaut worden sei. Es sei vollkommen unerheblich, ob der Donauturm Fernsehen ausstrahle, schrieb Sojka, entscheidend vielmehr sei, dass er die "architektonischen Kriterien" eines Fernsehturms erfülle, nämlich: ein freistehender Turm, meist aus Stahlbeton, der über einen Turmkorb verfüge - eine Definition, die er im Verlauf der Diskussion noch erheblich verfeinern sollte.

Ab dem zweiten Tag meldete er fremde Editierungen am Artikel als Vandalismus, wegen "Streichung des korrekten Fachbegriffes", der Artikel wurde gesperrt. Dieses "Problemchen" müsse doch wohl in einer Diskussion zu lösen sein, antwortete ein Administrator, aber das war ein Irrtum.

Ist die Donauturm-Debatte typisch für das Innere von Wikipedia? Natürlich diskutieren Wikipedianer auch wichtigere Themen, den Bombenangriff auf Dresden und die Industrielle Revolution, Scientology und das Erdbeben von Haiti. Und doch ist es so, dass Menschen in Wikipedia hart aneinandergeraten, dass sie auch über große Dinge diskutieren, indem sie sich mit großer Ernsthaftigkeit über kleine Dinge streiten. Die Bedeutung des Gegenstands korreliert auf Wikipedia nicht mit der Leidenschaft der Diskutanten. Wenn man erst einmal persönlich involviert ist, wird alles gleich wichtig.

Die Menschen, die zur Wikipedia beitragen, seien "keine zufällig zusammengestellte Gruppe", schreibt der Netz-Denker und Wikipedia-Kritiker Jaron Lanier, "oft sind es Menschen, denen die Dinge, über die sie schreiben, viel bedeuten."

Eigentlich gilt in Wikipedia das Prinzip des NPOV, des Neutral Point of View; keine Leidenschaften sollen die Darstellung des Gegenstandes beeinflussen. In der Realität haben die meisten Artikel nur wenige Hauptautoren, die ihre Werke oft adoptieren und gegen Änderungen anderer Nutzer verteidigen. Ob sie damit durchkommen, schreibt der Soziologe Christian Stegbauer, hängt nicht nur von der Richtigkeit ihrer Argumente, sondern auch von ihrer eigenen Position im sozialen Gefüge ab.

Es gab in der Donauturm-Debatte Kompromissvorschläge. Man bot Sojka an, den Fernsehturm-Aspekt im hinteren Teil des Artikels zu behandeln. Er lehnte ab. Die bloße Definition "Aussichtsturm" sei irreführend, wenn sie zu Beginn allein stehe. Ein Nutzer schlug vor zu schreiben: "Architektonisch entspricht er dem Typus Fernsehturm", denn das hieße, er entspreche nur einem Fernsehturm, sei jedoch keiner. Sojka antwortete: "Dein Kompromissvorschlag ist kein Kompromissvorschlag sondern unenzyklopdädischer Mist." Und: "Das Objekt ist ein Fernsehturm, das als Aussichtsturm genutzt wird. Punkt. Alles andere ist haltlose Märchenerzählerei."

Es ging im Grunde nur um eine Frage: Ist ein Fernsehturm nur, was Fernsehen ausstrahlt? Oder ist ein Fernsehturm auch, was wie ein Fernsehturm aussieht - gibt es einen Bautyp Fernsehturm? Nach zwei Wochen erstellte jemand eine Statistik der bisherigen Beiträge, Sojka lag mit 242 Beiträgen - fast einem Viertel der gesamten Konversation - einsam an der Spitze, gefolgt von seinen Gegnern.

Das war der Moment, als Henriette Fiebig sich einschaltete. Henriette Fiebig ist bekannt in der Wikipedia, das sagt sie von sich selbst, und es stimmt. Aktiv seit 2004, Administratorin, früheres Mitglied des Wikipedia-Schiedsgerichts. Wenn es stimmt, dass Wikipedia wie eine Oligarchie funktioniert, wie Stegbauer sagt, gehört Henriette Fiebig zur Führungsschicht.

Sie sitzt in einem Café in Berlin, am Nollendorfplatz, eine mollige Frau, 42, deren Gesichtsausdruck an die junge Angela Merkel erinnert. Auf ihrem T-Shirt steht "Enzyklopädist", sie spricht schnell und viel.

"Die Donauturm-Debatte war ja schon kilometerlang, als ich darauf stieß", sagt sie, "ich las und las, man hat ja Spaß am Dissens. Der Wlady hat sich selbst ins Aus geschossen, der wurde immer aggressiver. Du kriegst natürlich irgendwann auch einen Hass auf so jemanden, du denkst: Ich will dem das Maul stopfen."

Sie ging in die Staatsbibliothek, suchte, fand, und schrieb einen langen Beitrag. Erstens: Sojkas Hauptquelle, die er selber als "Turmbibel" bezeichnet hatte, sei kein wissenschaftliches Werk, sondern eher ein Bildband. Zweitens: Was Sojka für einen Bautyp Fernsehturm halte, sei laut dem von ihr aufgefundenen "Lexikon der Bautypen" in Wahrheit ein "Kopfturm".

Als ob ihn das hätte überzeugen können.

Henriette Fiebig sagt, ein eingefleischter Wikipedianer habe solche Diskussionen schon dreimal durchgemacht, man komme nie zu einem Konsens: "Irgendwann hast du geschnallt: Wir suchen da letztlich die Wahrheit. Die gibt's aber nicht." Eigentlich habe sie dieses Rechthabenwollen abgelegt, nachdem sie sich zweieinhalb Jahre mit den "Pappköppen im ,Erfundenen Mittelalter' herumgeschlagen" habe, den Anhängern einer Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Jahre 614 bis 911 nie existiert hätten. Sie hat sich damals durchgesetzt.

Henriette Fiebig lebt nicht nur in Wikipedia, sie arbeitet auch da, im Hauptquartier von Wikimedia Deutschland. Das ist ein Verein, der die Wikipedia und ihre Schwesterprojekte unterstützt und Spenden für sie sammelt, sie aber ausdrücklich nicht betreibt - denn das macht die Wikimedia Foundation in den USA, eine gemeinnützige Organisation, die Spenden sammelt, um die Wikipedia in allen 272 Sprachversionen zu finanzieren: 9,4 Millionen US-Dollar wird sie im laufenden Geschäftsjahr für Betriebskosten wie Personal und die weltweit rund 400 Server ausgeben.

Der deutsche Verein residiert in einer Sechs-Zimmer-Jugendstilwohnung in Berlin-Schöneberg, und als eine von zwölf Mitarbeitern arbeitet Henriette Fiebig tagsüber als "Community Assistant", als Bindeglied zu den Wikipedianern.

Oft nimmt sie Anrufe entgegen, von Menschen, die zwar Wikipedia nutzen, aber noch nicht ganz verstanden haben und Änderungen an Einträgen verlangen. Es rufen auch Menschen an, die Konzertkarten oder einen Allesbrennerofen bestellen wollen, weil sie den Kontaktknopf neben dem Wikipedia-Artikel für eine Bestellmöglichkeit hielten.

Henriette Fiebig kam nach einem abgebrochenen Mediävistik-Studium zu Wikipedia. Zuerst habe sie gedacht: "Besserwisser, die dummes Zeug ins Internet schreiben, brauch ich nicht." Aber dann stieß sie auf klägliche Artikel zu ihren Lieblingsthemen, dem Donaldismus und zur Heldenepik. Da habe sie gewusst: Dieses Projekt braucht mich.

Sie merkte, dass die Leute in Diskussionen auf sie hörten, in ihr wuchs das Gefühl, etwas bewegen zu können. "Natürlich bin ich wie alle Wikipedianer ein Selbstdarsteller", sagt sie. Es war die Frühzeit, als man noch schnell aufsteigen konnte, nach zwei Monaten wurde sie zur Administratorin gewählt.

Der Einstieg in die Wikipedia ist seither wesentlich schwieri-ger geworden, sagt Henriette Fiebig. "Heute brauchst du drei Tage, um alle Regeln zu lesen. Die Ansprüche an Artikel sind gestiegen, es herrscht Fußnotenpflicht. Viele Themen sind bereits weg. Es gibt Relevanzkriterien, die bestimmen, worüber man überhaupt noch schreiben darf."

Das zeigt sich in der Entwicklung der Nutzerzahlen: Jahrelang explodierte die Zahl der neuen Wikipedianer, inzwischen ist sie deutlich zurückgegangen. Der Soziologe Stegbauer kommt in seiner Studie zum Ergebnis, dass sich die Führungsschicht der Wikipedia immer stärker abschotte und neuen Teilnehmern den Zugang erschwere.

Warum beteiligen sich Menschen überhaupt ohne Bezahlung daran, eine Enzyklopädie zu schreiben? Ein wichtiger Antrieb ist laut Stegbauer die soziale Anerkennung, die man sich durch seine Mitarbeit in der Gemeinschaft erarbeitet. Deswegen geht es, wenn man über Wikipedia sprechen will, so oft um Zwischenmenschliches. Es geht um große Fragen und am Ende doch wieder nur darum, dass Menschen soziale Rollenkämpfe ausfechten.

Ganz unten in der Hierarchie stehen die IPs, die nicht angemeldeten Nutzer, sie sind es nun mal, die am ehesten in den Artikel über Diderot "ficken" reinschreiben. Zur Elite der Wikipedia gehört die Kaste der rund 300 Administratoren. Sie haben das Recht, Artikel zu sperren und zu löschen und Benutzer zu disziplinieren. Ganz oben stehen auch die Legenden und Starautoren.

Die meisten Wikipedianer haben eine feste Rolle. Es sind Administratoren wie Henriette Fiebig, Artikelschreiber wie der anonyme Islam-Wissenschaftler, der nur als "Orientalist" bekannt ist, oder Achim Raschka, eine Größe im Bereich Biolo-gie. Es sind Vandalenjäger wie der Nutzer, der unter dem Namen "DerHexer" angemeldet ist. Es sind Männer mit einer Mission wie Wladyslaw Sojka. Die Wikipedia kennt eigene Prominente, zum Beispiel den Nutzer "Fossa", der sich eine Anhängerschaft erwarb, indem er andere Nutzer als Möchtegern-Enzyklopädisten und "Wikifanten" schmähte.

Die Frau, die vielleicht mit am meisten über Wikipedia weiß, ist enttäuscht von ihr und kommt doch nicht davon los.

Elisabeth Bauer, eine schmale Frau mit rotgefärbten Haaren, 32, Politikwissenschaftlerin und eine Legende in Wikipedia, lebt in einem bayerischen Weiler in der Nähe des Starnberger Sees, in einem umgebauten Bauernhof.

Wenn andere Wikipedianer von Elisabeth Bauer reden, von der Frau, die sie als "Elian" kennen, vermischt sich Ehrfurcht mit Unverständnis. "Sie war die Mutter von det Janze" ist ein Satz, der oft fällt. Viele sagen auch, dass sie nicht verstehen, was sie heute gegen Wikipedia hat, die doch einmal ihr Projekt war.

Sie hat schon viele Male hingeschmissen, einmal hinterließ sie zum Abschied ein Bild von einer Atomexplosion, aber sie ist immer wiedergekommen. Mittlerweile geht die Entfremdung tief. Die letzten Jahre hat sie an der Wikipedia-Studie von Christian Stegbauer mitgearbeitet, er hätte keine kundigere Helferin finden können. Sie sagt, sie habe versucht, in dieser Zeit Abstand zu Wikipedia zu gewinnen.

Sie hat keine Lust mehr auf diese Diskussionen, wo man dauernd denke: Wie können Leute nur so blöd sein? Es ist der Umgangston in Wikipedia, der ihr nicht mehr gefällt. "Früher gab es mehr Verrückte und Außenseiter, unter denen habe ich mich wohl gefühlt. Heute sind da Leute, die einen mit einer Hausordnung empfangen."

Sie war 2002 in einer wissenschaftlichen Fußnote auf Wikipedia gestoßen, wurde Mitglied Nummer 44 in der noch jungen deutschen Version, schnell war sie Administratorin, gehörte zum inneren Kreis.

Sie redet von der "Frühzeit", wenn sie von den Anfängen spricht, es klingt nach besseren Tagen. Die Frühzeit, das war, als die deutsche Wikipedia noch praktisch leer war. Als der Artikel zur Nordsee aus einem Satz bestand, der lautete: "Die Nordsee ist ein Mehr." Es war eine Zeit, in der die Diskussionen nicht lange dauerten, weil kaum jemand da war, der hätte diskutieren können. Sie sagt: "Wir haben oft kurzerhand Regeln festgelegt. Es mutet seltsam an zu sehen, wie sich manche Leute heute die Köpfe einschlagen wegen Dingen, die man selber einmal einfach so hingeschrieben hat."

Es gibt viele Grundsatzdebatten heute, zum Beispiel über die Frage nach der Relevanz. Ende vergangenen Jahres stritten sich Inklusionisten, die möglichst jedes Thema für Wikipedia-würdig halten, mit Exklusionisten, die stark einschränken möchten, worüber geschrieben werden soll. Der Streit entzündete sich an einem Verein "Missbrauchsopfer gegen Internet-Sperren" (Mogis), dem ein eigener Eintrag verwehrt wurde, die Debatte schaffte es bis in die Medien.

Elisabeth Bauer hält diese Debatte für künstlich. Sie sagt, es müsse eher darum gehen: Wie viele Artikel können wir auf einem vernünftigen Niveau halten? Wie können wir sie gegen Vandalen und Pressestellen verteidigen? Für sie geht es nicht um Relevanz. Es geht darum, dass man einen unvollkommenen, zu kurzen Artikel eines Neulings nicht einfach weglöscht und ihn auch noch anschnauzt. Auch das sei eine Art Vandalismus, sagt sie. Ein Neuling, der so aggressiv begrüßt werde, schreibe nie mehr. Das Projekt sei aber auf neue freiwillige Mitarbeiter angewiesen.

Das ist es, was sie meint, wenn sie sagt, für die Leser, die Informationen suchten, funktioniere Wikipedia noch sehr gut, menschlich aber nicht mehr so. Die allermeisten Wikipedianer sind junge Männer, "man ist manchmal erstaunt, wie jung die sind", sagt sie. Und vielleicht liegt da auch eine Erklärung für manches. "Viele der Leute, die sich in Diskussionen wie die größten Ekel verhalten, sind privat erschreckend nett." Für einige ist Wikipedia mehr als ein Lexikon, mehr als ein Zeitvertreib, es wird zu einem zentralen Teil ihres Lebens, zu einer Sucht.

Sie sagt, man solle sich mal die Debatte zum Donauturm anschauen, wie da wegen eines einzelnen Satzes monatelang diskutiert worden sei. "Oder vielleicht besser doch nicht. Sonst denken die Leute, das sind alles Irre."

Man kann den weiteren Fortgang der Diskussion um den Donauturm, die hier in ihrer Aggressivität und Endlosigkeit nur unzureichend wiedergegeben werden kann, damit zusammenfassen, dass Wladyslaw Sojka sich weigerte, weitere Argumente seiner Gegner zu würdigen, die eigenen in unzähligen Varianten wiederholte, und zum Beweis Buchtitel nannte, etwa: "Der deutsche Fernsehturm: Eine politische und architektonische Grenzüberschreitung". Seine Gegner taten es ihm gleich.

In der Zwischenzeit hatte sich die Schlacht auf andere Bereiche der Wikipedia ausgeweitet, auf die einst von Sojka erstellte "Liste der höchsten Fernsehtürme", wo der Donauturm bisher auf Platz 50 gestanden hatte und nun gegen eine Löschung verteidigt werden musste.

Es war Henriette Fiebig, die den großen Schlusspunkt in diesem Streit setzte, einen sieben Megabyte großen Reader mit Fachartikeln, den sie allen Streithähnen zur Verfügung stellte und der die Aussichtsturmhaftigkeit des Donauturms in ungekannter Klarheit zu belegen schien. Sie hatte dafür zwei Wochen lang täglich in der Berliner Staatsbibliothek recherchiert. Nur Wladyslaw Sojka forderte immer noch Beweise dafür, dass es sich beim Donauturm um keinen Fernsehturm handle. Aber er hatte längst verloren.

Es zeige sich, schrieb Sojka in seiner bitteren Schlussrede, dass "nicht die Argumente und die Fachliteratur die Inhalte eines Artikels bestimmen, sondern die Gruppenbildung und persönliche Animositäten". Er schrieb: "Ich bin hier raus."

Wladyslaw Sojka sagt heute, es wäre wohl strategisch klüger gewesen, deut-lich weniger zu schreiben. Er sagt das in Lörrach, in seinem Arbeitszimmer, vor seinem Computer, an dem er so viele Stunden in der Wikipedia verbracht hat.

Wikipedia gefällt ihm nicht mehr, er fühlt sich schlecht behandelt. Er sagt, es sei ein Unding, dass Leute bei allem mitreden könnten, auch bei Themen, von denen sie keine Ahnung hätten, also auch bei Fernsehtürmen.

Er hat die Wikipedia nach dem Streit verlassen, inzwischen hat die Wikipedia-Community ihn ausgeschlossen. Sie wies ihm nach, dass er sogenannte Sockenpuppen benutzt hatte, verschiedene Benutzeridentitäten, um seine Position in Diskussionen zu stärken. Es ist ein Vergehen, das schon prominente Opfer forderte in Wikipedia.

So endete die Autorenkarriere von Wladyslaw Sojka. Aber nur vorläufig. Er ist weiterhin dabei, unter einem neuen Benutzernamen.

Henriette Fiebig sagt, dieser Editierkrieg um den Donauturm zeige, wie ernst die Wikipedianer es nähmen mit dem belegten Wissen. Zwar wolle sie manchmal nichts mehr wissen von dem ganzen Zeug, von den Rechthabereien. "Und dann will ich trotzdem erfahren, wie es weitergeht."

An guten Tagen sei Wikipedia besser als jede Soap.


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