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Das Terror-Phantom

Man mag es drehen und wenden wie man will. Alle scheinen sich in dieser Sache einig zu sein. Nigeria steht dieser Tage vor wohl einer seiner größten Herausforderungen seit der Unabhängigkeit des Landes vor über 50 Jahren. Hatte er zu Anfang noch eine rasche Lösung des Problems versprochen, so musste Präsident Goodluck Jonathan vor kurzem eingestehen, dass Boko Haram Nigeria in eine Krise gestürzt hat, die von der Tragweite her vergleichbar ist mit der des Biafra-Sezessionskrieges zwischen 1967 und 1970.

Was muss in der Zwischenzeit geschehen sein, damit der erst kürzlich ins Amt gewählte Präsident seine Meinung derart revidieren muss? Nachdem die Sekte im Juni letzten Jahres mit dem ersten Selbstmordanschlag in der Geschichte des Landes ihren Terror bereits auf eine neue Ebene gebracht hatte, überzog die Gruppierung Nigeria vor allem in den letzten Monaten mit folgenschweren Attacken. Eine Reihe von Bombenanschlägen auf Weihnachtsfeierlichkeiten im ganzen Land kostete im Dezember 2011 nach offiziellen Angaben mindestens 41 Menschen das Leben.

Der blutige "Höhepunkt" der neuerlichen Gewalt ereignete sich schließlich am 20. Januar, als Boko Haram im nordöstlichen Kano wütete und die Stadt mehr als einen Tag lang mit Bombenanschlägen und bewaffneten Angriffen überzog. Mehr als 180 Menschen starben - die meisten von ihnen Zivilisten. Hinzu kommen fast tägliche, weniger intensive Scharmützel und Sachschäden, die in die Millionen gehen. Nigeria scheint dieser Tage einfach nicht zur Ruhe kommen zu können. So heftig waren die Attacken der letzen Monate, dass das Schreckgespenst Boko Haram auch hierzulande ins Blickfeld der breiteren Öffentlichkeit gerückt ist. Alle bisherigen Eindämmungsversuche seitens der nigerianischen Regierung waren zum Scheitern verurteilt. Boko Haram ist ein gesichtsloser, heimlicher Gegner, eine inkohärente Gruppe ohne starre Hierarchie.

Boko Haram schafft Tatsachen

"Einige sagen, die Situation sei so schlimm, dass man nicht einmal erkennt, wenn der eigene Sohn Mitglied der Terrorgruppe ist", muss der amtierende Präsident Goodluck Jonathan eingestehen und führt fort: "Es kann sein, dass die Person, mit der man am Vorabend noch Tisch und Essen geteilt hat, schon am nächsten Tag eine Waffe auf dich richten oder eine Bombe hinter deinem Haus platzieren wird." Die Anhänger der Gruppe sind fanatisch und treten entschlossen für ihre Sache ein.

Die Sekte ist jedoch keine Bewegung, die in der Bevölkerung breite Zustimmung erfährt. Dies gilt besonders für die christliche Bevölkerung als offensichtlich primäres Ziel Boko Harams. Aber auch Muslime und ihre religiösen Führer verurteilten die unmenschlichen und unislamischen Taten gegenüber beiden Religionsgruppen aufs Schärfste. Schließlich waren auch muslimische Geistliche und Moscheen in der Vergangenheit Opfer des Sektenterrors geworden.

Die selbst ernannten "Taliban Nigerias" haben es bei ihren Angriffen vor allem auf Christen abgesehen und sich der Implementierung der Scharia-Gesetzgebung im mehrheitlich muslimisch geprägten Norden des Landes verschrieben. Der mittlerweile inhaftierte Sprecher der Gruppe, Abul Qaqa, wetterte, dass er Nigeria unregierbar machen wolle und erst Verhandlungen akzeptiere, wenn die Regierung in die Knie gezwungen worden sei. Eine weitere vielfach formulierte Forderung der Gruppe ist die Freilassung seiner verhafteten Anhänger. Alleine in diesem Jahr haben Sicherheitskräfte bereits über 100 potentielle Sektenmitglieder festgenommen. Klar ist, dass Boko Haram keine leeren "Versprechungen" macht - Boko Haram schafft Tatsachen.

Andere bezweifeln, dass die Sekte überhaupt autonome Ziele hat, sondern sehen sie eher als Spielball einer Vielzahl von Akteuren, die ihre eigenen Absichten verfolgen. "Boko Haram ist zu einer Art Franchise geworden, in das sich jeder, der will, einkaufen kann", erklärt Kashim Shettima, Gouverneur des nordöstlichen Bundesstaates Borno State gegenüber The Economist. So liegt die vielfach geäußerte Vermutung in der Luft, dass die Gräueltaten der Sekte vor allem der Agenda der nördlichen Elite dient, die die Gruppe finanziell unterstützt und vor Entdeckung beschützt, um so dem politischen Gegner, Goodluck Jonathan, zu schaden. Dieser ist Christ und hatte ihrer Meinung nach das sogenannte "Zoning"-Abkommen gebrochen, welches vorsieht, dass das Regierungsamt periodisch zwischen den verschiedenen Bevölkerungs- und Religionsgruppen rotieren soll. Der politische Anteil am Konflikt scheint den religiösen Aspekt zu überwiegen.

Die Meinungen innerhalb der nigerianischen Gesellschaft darüber, wie die Regierung um Goodluck Jonathan auf das Problem Boko Haram reagieren sollte, fallen daher sehr unterschiedlich aus und die Debatte um die Herangehensweise an das Problem wird kontrovers geführt.

"Wenn sie sich aber nicht zu erkennen geben, mit wem sollen wir dann den Dialog führen?"

Einige fordern ein härteres Vorgehen gegen die Aktivitäten der Sekte. Die Politik der harten Hand war auch Mittel erster Wahl des amtierenden Präsidenten zu Beginn der Krise. Diese Herangehensweise schlug jedoch fehl und spielte den Terroristen eher in die Hände, da es seitens der nigerianischen Sicherheitskräfte immer wieder zu Kompetenzüberschreitungen und polizeilicher Gewalt gegenüber Zivilisten kam. Auch die Sekte selbst nennt als einen ihrer Beweggründe den Wunsch nach Rache für die Tötung des Sektenführers Mohammed Yusufs durch nigerianische Sicherheitskräfte im Jahr 2009. Dies erklärt auch, warum sich die Attacken der Sekte vor allem auch gegen Polizeikräfte richten und diese neben der christlichen Zivilbevölkerung die größten Verluste zu verzeichnen haben.

Die Mehrheit der nigerianische Bevölkerung plädiert mittlerweile jedoch eher dafür, den Dialog mit der Gruppe zu suchen. Diese Forderung nach einer friedlichen Lösung des Problems zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Ob Nord oder Süd, ob Muslim oder Christ - bei ihnen allen scheinen die Narben der vergangenen Zerreißproben noch tief im Gedächtnis zu liegen. Auch Präsident Goodluck Jonathan scheint nun diese Linie zu verfolgen. So erklärte er Anfang des Jahres: "Wir suchen den Dialog. Teilt uns eure Probleme mit und wir werden eure Probleme lösen. Wenn sie sich aber nicht zu erkennen geben, mit wem sollen wir dann den Dialog führen?" Boko Haram lehnte das Gesprächsangebot ab.

Die bekannten Forderungen der Sekte sind zudem für die Regierung unerfüllbar. Hinzu kommt der allgemeine Vertrauensverlust in die Regierung und Zweifel an ihrer Fähigkeit, das Problem lösen zu können. Immer wieder befremdete sie die Bevölkerung durch Korruption, außerrechtmäßige Gewalt durch Polizei und Militär, Peinlichkeiten wie Gefängnisausbrüchen und -befreiungen von Sektenmitgliedern oder die jüngste vehement bestreikte Entscheidung, die Subventionen für Treibstoffe abzuschaffen.

Noch aber ist der Dialog die wahrscheinlichste Lösung des Konflikts. Entgegen der Selbstbeschreibung als "Taliban Nigerias" und dem Schulterschluss mit anderen radikal-islamischen Terrorgruppen wie der "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQIM) und der somalischen Al-Shabaab sind die formulierten Ziele Boko Harams noch eher nationaler Natur und können als solche nur in Verhandlungen oder aber durch den Sturz der Regierung in Abuja erreicht werden.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich in den Chor der Fürsprecher für einen Dialog auch Stimmen mischen, die eine Sezession fordern. Auch das Schreckgespenst eines "failed state" oder eines Bürgerkrieges macht die Runde. Ein Auseinanderfallen des Staatengebildes ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Dafür spricht die grundsätzliche Teilung in einen überwiegend muslimischen Norden und einen mehrheitlich christlichen Süden. Deren gegenseitiges Misstrauen wird in jüngster Zeit auch dadurch geschürt, dass politische Führungskräfte des Nordens der Kollaboration mit Boko Haram bezichtigt werden. Diese Stimmungsmache zementiert die Fragmentierung der politischen Klasse.

Nigerias Bevölkerung ist gegen die Spaltung des Landes

Gegen die potentielle Sezession spricht jedoch das Problem, wie man eine solche Teilung denn genau durchführen sollte. Die Idee des muslimischen Nordens versus einem christlichen Süden mag zwar auf den ersten Blick richtig wirken, ist aber eine deutliche Verallgemeinerung. So gibt es in Nord und Süd auch eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern der jeweils anderen Glaubensgemeinschaft. Ein Ultimatum seitens Boko Haram, in dem sie Christen im Norden aufforderte, diesen Teil des Landes zu verlassen, verstrich, ohne dass die Mehrheit der Christen dieser Aufforderung Folge leistete. Längst ist der Norden auch zu ihrer Heimat geworden und im Süden müssten sie ihre Existenz von Null an neu aufbauen.

Auch die Tatsache, dass mehrheitlich und religionsüberschreitend der Dialog gesucht wird, spricht gegen eine Sezession. Dies gilt für den Norden - und bis zu einem gewissen Grad gleichermaßen für den Süden - auch insbesondere deswegen, da man sich bewusst ist, dass man für das eigene Überleben ökonomisch vom anderen Teil abhängig ist. Für den Norden wären dies die Petrodollars aus dem Ölreichtum des Südens. Zudem hat der landesweite Streik gegen die Abschaffung der Treibstoffsubventionen eindrücklich gezeigt, dass grundsätzlich ein einheitlicher Willen besteht und man gegen dieselbe Sache kämpfen kann - an erster Stelle die Unfähigkeit der Regierung, die sprudelnden Öleinnahmen auch bei der einfachen Bevölkerung ankommen zu lassen.

Bislang hat es bis auf wenige Ausnahmen (noch) keine Vergeltungstaten an der muslimischen Minderheit im Süden gegeben. Die Gefahr eines Bürgerkrieges ist somit noch nicht akut. Allerdings ist sie auch nicht völlig aus der Luft gegriffen. Zum jetzigen Zeitpunkt will man diesen aber natürlich mit allen Mitteln verhindern. Man hat gelernt, dass wenn die Situation ausartet und eine Gewaltspirale in Gang gesetzt wird, man sich ein nicht mehr beherrschbares Monster schafft, das seine Fratze in der Vergangenheit mehr als deutlich gezeigt hat.

Das Gebot der Stunde ist also der Dialog. Darin stimmen die meisten überein - Christen aus dem Süden genauso wie Muslime aus dem Norden, der Präsident und seine Regierung genauso wie Stimmen aus der Diaspora. Anhänger und Führer beider Religionen drängen zur Kooperation und wollen deutlich machen, dass man an einem gemeinsamen Strang ziehe. Dass dieser friedfertige Weg funktionieren kann, hat Nigeria schon bei der Lösung des Konflikts im Nigerdelta gezeigt. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Erfolgsweg auch bei diesem Gegner zum Ziel führen wird. Denn Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka liegt richtig, wenn er sagt, dass "man den Dialog nur mit demjenigen führen kann, der dazu überhaupt gewillt ist." Für den Moment sieht dies (noch) nicht so aus.

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