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Wie Mini-Organe Tierversuche vermindern sollen

Jede Minute atmen wir 10- bis 15-mal ein und aus, im Verlauf eines Tages ziehen wir 10'000 bis 15'000 Liter Luft durch die Luftröhre und in die immer feiner verzweigten Bronchien hinab bis in die Lungenbläschen, wo der lebensnotwendige Gasaustausch stattfindet: Sauerstoff wird durch die Wände der Lungenbläschen ins Blut aufgenommen, CO 2 in die Atemluft abgegeben.

Infografik: Von der Lunge zum "atmenden" Chip I Grafik vergrössern.

Ein Miniaturmodell der Lungenbläschen haben Forscherinnen und Forscher um Professor Olivier Guenat vom Artog-Forschungszentrum der Universität Bern in Zusammenarbeit mit den Lungenkliniken des Inselspitals entwickelt. Die "Lunge auf Chip" wurde Anfang 2015 mit dem zweiten Preis des Ypsomed-Innovationsfonds ausgezeichnet, das Spin-off Alveolix soll sie als Produkt auf den Markt bringen. Das ehrgeizige Ziel des Spin-offs: die Entwicklung von Medikamenten besser und kostengünstiger machen sowie die Anzahl der Tierversuche reduzieren.

Infografik: Von der Lunge zum "atmenden" Chip II Grafik vergrössern.

Und die Berner Forscher sind nicht die Einzigen, die in den künstlichen Mini-Organen grosses Potenzial sehen. Seit das renommierte Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering der Harvard University 2010 den weltweit ersten "atmenden" Lungenchip vorgestellt hat, arbeiten weltweit zahlreiche Gruppen an verschiedenen Organen auf Chip. Das Potenzial der Technologie scheint gross.

"Heute fallen neun von zehn neuen Wirkstoffen durch, wenn man sie in klinischen Studien zum ersten Mal an Menschen testet - weil sie entweder nicht die gewünschte Wirkung oder uner­wünschte Nebenwirkungen haben", erklärt Guenat. Und dies, obschon sie in Versuchen an Zellkulturen und Tieren vielversprechend waren. Doch Zellen in einer zweidimensionalen Zellkultur verhalten sich nicht gleich wie in einem dreidimensionalen Organ im Innern des Körpers. Auf dem Kunststoffchip, den Guenat mit Mikrotechnikern, Biologen und Medizinern entwickelt hat, finden Lungenzellen hingegen Bedingungen vor, die denen in den Lungenbläschen nahekommen: Auf der einen Seite der feinen Membran, auf der sie angesiedelt werden, sind sie der Luft ausgesetzt, auf der anderen einem Nährmedium, das dem Blut entspricht. Vor allem aber lassen sich die Zellen im Atemrhythmus dehnen.

Lungenentzündung verstehen

Noch sind die verwendeten Chips in aufwendiger Handarbeit gefertigt, doch Alveolix hat bereits einen Prototypen zum Patent angemeldet, der industriell gefertigt werden kann. Am Swiss Innovation Forum Ende November wurde er erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

"Mithilfe der Lunge auf Chip hoffen wir, dass man Lungenkrankheiten in Zukunft besser verstehen und dadurch auch besser behandeln kann", sagt Guenat. So entwickelt er derzeit gemeinsam mit Professor Thomas Geiser, Direktor der Universitätsklinik für Pneumologie des Inselspitals, und weiteren Forschenden ein Modell der Lungenfibrose - einer seltenen, aber aggressiven und bisher unheilbaren Lungenkrankheit, bei der das Lungengewebe immer stärker vernarbt und die Aufnahme von Sauerstoff immer schwerer wird. "Da scheint mechanische Belastung auch eine wichtige Rolle zu spielen, denn es sind insbesondere die Ränder der Lunge betroffen, wo die Lungenbläschen stärker ausgedehnt werden", sagt Geiser.

Erste Forschungsresultate lassen vermuten, dass ein wichtiger Prozess der Lungenfibrose abhängig ist vom Atemrhythmus, der die Lungenzellen dehnt. In einem weiteren Projekt, das von der Lungenliga und der Stiftung 3R unterstützt wird, versuchen die Berner Forschenden, auf dem Chip ein Modell für akute Lungenentzündung zu entwickeln.

Rauch atmender Chip

Forschende am Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering der Harvard University untersuchen derweil die bisher unheilbare, chronisch obstruktive Lungenkrankheit COPD sowie die Auswirkungen von Zigaretten und E-Zigaretten auf gesundes und krankes Lungengewebe. Dazu haben sie einen Lungenchip mit einer Maschine kombiniert, die Rauch von Zigaretten oder E-Zigaretten auf den Chip atmet. Auf den mit Rauch beatmeten Lungenzellen stellten sie Veränderungen fest, die auch in Lungen von Rauchern zu finden sind. Durch weitere Forschung erhoffen sie sich ein besseres Verständnis und eine bessere Behandlung von Lungenkrankheiten, die mit Rauchen in Verbindung stehen.

Neben der Modellierung von gesunden und kranken Geweben zielen viele Organe auf Chip auch auf die Prüfung von Wirkstoffen. So arbeitet etwa die Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) gemeinsam mit niederländischen Partnern an einer Niere auf Chip. Das Projekt wird vom britischen Nationalen Zentrum zum Ersatz von Tierversuchen (NC3Rs) finanziert und von Forschern von Roche, GlaxoSmithKline und Pfizer eng begleitet.

Bereits 2018 könnten die Pharmafirmen die Niere auf Chip einsetzen, um zu prüfen, ob neue Arzneimittel für die Niere toxisch sind, was die Zahl der Tierversuche stark reduzieren würde. "Im Tier müssen dann nur noch die guten Substanzen getestet werden, die auch hohe Chancen haben, auf den Markt zu kommen", sagt die am Projekt beteiligte Toxikologin Laura Suter-Dick von der FHNW.

Bis zu zehn Organe kombinieren

Einige Forschergruppen gehen noch einen Schritt weiter und tüfteln an Multi-Organ-Chips, um auch das Zusammenspiel mehrerer Organe im System erforschen zu können - etwas, das bisher nur im Tierversuch möglich ist. So hat etwa Tiss-Use, ein Spin-off der Technischen Universität Berlin, bereits 2- und 4-Organ-Chips entwickelt. Laut Reyk Horland, Leiter Business Development bei Tiss-Use, sind Industriepartner oft an Kombinationen mit einem Mini-Modell der Leber interessiert. Denn manchmal haben nicht neue Wirkstoffe selbst, sondern in der Leber entstandene Stoffwechselprodukte eine gewünschte oder toxische Wirkung auf an­dere Organe.

Bis Ende des Jahres 2018 möchte Tiss-Use zehn Organe auf einem Chip kombinieren. Jedoch: "Unsere Chips werden nie denken und fühlen können", sagt Horland. "Sie sollen aber bereits in naher Zukunft aufzeigen, wie Medikamente im Körper aufgenommen werden und wie sie auf die verschiedenen Organe wirken."

(Tages-Anzeiger. Text: Martina Huber Grafik: Sandra Niemann)

(Erstellt: 29.11.2016, 22:43 Uhr)


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