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Der Klageberg von Moabit

Im Berliner Verwaltungsgericht liegen fast 14.000 Verfahren. Es wird Jahre dauern, sie abzuarbeiten. Ein Ortsbesuch.


Am Ende eines dreizehnstündigen Arbeitstages, an dem sich Richter Frederic Kahrl die Geschichten dreier geflüchteter Männer angehört hat, sich vom Leben des afghanischen Eisverkäufers Ghayor S. erzählen ließ, von Auyob S., wie er im Jahre 1393 nach Auszug des Propheten Mohammed nach Medina einen Drohbrief der Taliban erhalten hat und von Saffiullah R., wie ihm sein Cousin Atique die Islamlistenmiliz auf den Hals gehetzt hat, am Ende dieses langen Montags, an dem der Richter Zeit für ein belegtes Brötchen, eine Banane, drei Espresso und vier Ingwerbonbons fand, am Ende dieses Tages, kann Kahrl die Zahl der laufenden Asylverfahren in seiner Richterkammer von 204 auf 203 drücken. Und keiner bekommt etwas davon mit.


Kläger, Übersetzer und Anwälte haben das Gebäude längst verlassen. Es ist kurz nach halb acht Uhr abends, als sich Kahrl ein letztes Mal die schwarze Robe über den blau-weiß-kleinkarierten Anzug streift. Die Leuchtröhren surren an der Decke, Kahrl biegt das Mikrofon auf dem Richterpult zurecht. Im dunklen Gang vor dem Saal prasselt seine Stimme aus dem Lautsprecher: „In der Verwaltungsstreitsache S. gegen die Bundesrepublik Deutschland VG 16 K 716.17 A. Wer interessiert ist, wird zur Verkündung einer Entscheidung in den Sitzungssaal 3101 gebeten."


Viermal mehr unerledigte Verfahren als im Vorjahr

Die Asylverfahren werden in öffentlichen Sitzungen verhandelt. Und so muss die Öffentlichkeit die Chance erhalten, von den Verhandlungen zu erfahren. Als Kahrl den zweiten Fall aufruft, lugt tatsächlich jemand durch den Türspalt in den Sitzungssaal. Der Pförtner, ungeduldig. „Ich verkünde noch. Bin in fünf Minuten fertig", sagt der Richter.


Er setzt zwei Urteilsverkündungen auf Mittwoch an. Beim Fall des afghanischen Eisverkäufers braucht Kahrl keine Bedenkzeit. Er hat lang genug gewartet, ist seit Sommer 2015 in Deutschland, kam eine halbe Stunde vor dem Verhandlungstermin ins Gericht, um dann fünf Stunden im Wartesaal zu sitzen.


Kahrl steht jetzt hinter dem Richterpult, blickt auf den leeren Saal mit dem Flecken auf dem türkisen Teppich. Er urteilt darüber, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) richtigliegt, wenn es sagt, dass der afghanische Eisverkäufer, den seine Freunde „Almani" - „den Deutschen" - nennen, nicht in Deutschland bleiben darf.


Die Verwaltungsgerichte in Deutschland ächzen unter der Zahl der Asylklagen. Der Bund der Deutschen Verwaltungsrichter zählte zum Jahreswechsel 320.000 unerledigte Verfahren. Das ist mehr als viermal so viel als im Jahr zuvor. Hunderte Richter wurden eingestellt, die Bundesregierung erwägt Gesetzesänderungen, um die Bearbeitungsdauer zu verkürzen - denn es wird Jahre dauern, bis die Klagen abgearbeitet sind.


Die Situation an den Gerichten zeigt, welche Tragweite die Grenzöffnung von 2015 für die deutsche Bürokratie hat. Damals hat wohl kaum jemand gedacht, dass die vielen Geflüchteten Behörden über Jahre an die Belastungsgrenze treiben werden, dass die Asylkrise vom Lageso, über das BAMF bis zum Verwaltungsgericht wandert. Jetzt klagt mit dem Bundesverfassungsgericht die nächste Behörde über die vielen Asylverfahren.

Das Berliner Verwaltungsgericht ist das größte seiner Art in Deutschland - und es passt bald nicht mehr in sein kollossales Gebäude in Moabit. Wegen der Asylklagen wurden vergangenes Jahr fünf neue Kammern gegründet. In diesem Jahr sollen weitere dazukommen.


„Wir schieben einen Klageberg vor uns her", sagt Gerichtssprecher Stephan Groscurth. Junge Richter wie Frederic Kahrl sollen helfen, den Berg abzubauen. Aber das dauert. „Wenn wir das hier hopplahopp machen, dann ist das kein Verwaltungsgericht mehr", sagt Kahrl. Anpacken will er trotzdem. Vier Entscheidungen pro Woche, seinen Schnitt will er halten. In die Fälle, die er heute verhandeln will, hat er sich am Wochenende erneut eingelesen, ist um halb acht morgens ins Büro gestürmt, sich die weiße Krawatte vor dem Schrankspiegel geknotet, Post abgearbeitet, Verhandlungen vorbereitet.


„Ich will dazu beitragen, dass die Zahl der unerledigten Asylklagen zumindest nicht weiter steigt", sagt der Richter. Frederic Kahrl, 36 Jahre, seit einem Jahr Vater, seit 2014 Volljurist. Er war Anwalt für Immobilienrecht, später hat er am Landgericht über Verkehrsunfälle geurteilt. Seit Mai entscheidet er über Asylklagen, Spezialgebiet: Afghanistan.


Ein landschaftlich, kulturell und geschichtlich hochinteressantes Land, wie Kahrl findet. Ein Land von dem er bis vor wenigen Monaten nicht viel mehr wusste, als dass es seit Jahrzehnten von kriegerischen Auseinandersetzungen zerrüttet wird, von Bürgerkriegen in Stellvertreterkriege in Terrorregime schlittert. „Es ist schon spannend, in so ein Land so tief einzutauchen", sagt Kahrl.


Dabei hilft ihm eine Landkarte, auf die er von seinem Schreibtisch blickt, und - wie Kahrl das nennt - seine Handbibliothek. Darin an die zehn Bücher mit Titeln wie „Blackbox Abschiebung" oder „Ausgerechnet Kabul: 13 Geschichten vom Leben im Krieg". Die entscheidenden Informationen aber kommen aus den Quellen auf der sogenannten Erkenntnismittelliste. Sie führt alle Lageberichte, Gutachten und Auskünfte zum Land auf. Der neuste UN-Bericht über zivile Opfer in Afghanistan liegt ausgedruckt auf dem Tisch.


Neben Afghanistan sind es vor allem die Herkunftsländer Syrien und Irak, die das Verwaltungsgericht in Atem halten. 14.512 Asylklagen sind im vergangenen Jahr eingegangen. Seit 2015 hat sich diese Zahl mehr als versechsfacht. Heute beschäftigen sich von 126 Richtern im Haus 123 mit Asylklagen. Trotzdem wuchs 2017 die Zahl der unbearbeiteten Klagen auf 13.603 am Jahresende an. Nicht nur Richter Kahrl hofft, dass der Klageberg bald beginnt zu erodieren, statt sich immer weiter aufzutürmen. Aber aus dem Haus heißt es auch: Bei komplizierten Herkunftsländern können vier Jahre vergehen, bis alle Klagen erledigt sind.


„Wie geht es Ihnen in Deutschland?"

Sitzungssaal 3101, erste Verhandlung. Um 9 Uhr stimmt der Tagesplan noch mit dem Tagablauf überein. Hinter dem Aufstellschild „Kläger" sitzt ein Mann mit leeren Augen, die Fingerkuppen stützt er auf den beigen Tisch. Auyob S. sitzt vor Richter Kahrl, wie ein Schüler, der die Rohrstockschläge seines Lehrers zu ertragen hat. Kahrl will eine entspannte Gesprächsatmosphäre im Verhandlungssaal. Er lächelt viel, lehnt lässig im Stuhl, bietet Pausen an, nickt interessiert. Seine Verhandlungen beginnen immer mit der gleichen Frage: „Wie geht es Ihnen in Deutschland?"


Auyob S. kramt in seinem Rucksack, wirft eine Handvoll zerknüllte Alupackungen auf den Tisch. Rosa Pillen, Antidepressiva. Aus der Sprache Paschtu übersetzt, lässt sich sein Zustand so zusammenfassen: „Am Nachmittag sitze ich in der Ecke und weine." Blickt man in seine braun unterlaufenen Augen - glaubt man ihm. Frau und Kinder seien seit seiner Ausreise auf der ständigen Flucht. Bis die Verhandlung geschlossen ist, wird er drei Mal in Tränen ausbrechen.


Auyob S. war, so trägt er es vor, als Übersetzer für die ISAF tätig, die Sicherheitsmission der NATO im Afghanistankrieg. Später hat er an einer Dorfschule Englisch unterrichtet. Irgendwann brachte sein Vater einen Brief aus der Moschee mit, der jetzt zwischen den Papieren auf Frederic Kahrls Richtertisch liegt. Darin wird S. mit dem Tode bedroht, weil er mit den „Helfershelfern, Dienern und Soldaten der Ausländer" zusammengearbeitet hat. S. vermutet einen radikal-religiösen Zweig seiner Familie dahinter.


Klägeranwalt Angelo Petzold zuckt zusammen. Kahrl fordert ihn zu einer Zwischenfrage auf. An die drei Stunden lang hatte Petzold in seinem Stuhl gelehnt, Zeitstrahlen und Notizen aufgezeichnet. Den Überblick in der Fluchtgeschichte zu behalten, fällt nicht ganz leicht. Vieles was der Kläger heute erzählt, taucht im Protokoll der BAMF-Anhörung nicht auf.


Ist mangelnde Qualität der Asylverfahren beim Bundesamt die Ursache für die Klageflut am Verwaltungsgericht? Muss das Gericht 2017 ausbaden, was das Amt 2015 vermasselt hat? Hört man sich bei Flüchtlingsorganisationen und Asylanwälten um, klingt dieser Zusammenhang zumindest nicht abwegig. Von Asylbescheiden, die nach der Methode Copy/Paste verfasst wurden ist die Rede, von Textbausteinen, die nicht zu der Geschichte des Angehörten passten. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Links-Fraktion im Bundestag sagt: „Die Bundesregierung trägt die Verantwortung für die Überlastung der Verwaltungsgerichte mit Klagen von Geflüchteten". Angebliche politische Vorgaben, etwa die Anerkennungsquote bei Afghanen zu drücken, hätten zu mangelhaften Bescheiden geführt.


Natürlich kann ein Richter wie Frederic Kahrl kein generelles Urteil über die Arbeit des Bundesamts abgeben. Aber auch er sagt: „Bei manchen Bescheiden erkennt man schon Anzeichen für einen gewissen Belastungsdruck." Allerdings sagen Anwalt Petzold auch: „Ich rate jedem Mandanten zur Klage". Er investiere ja nur einen Textbaustein für die Klageschrift, die meisten Asylbewerber erhalten Prozesskostenhilfe. Mit dem Verfahren gewinnen sie Zeit. Für Kläger, die wie Auyob S. die Familie nachholen wollten, kann die Wartezeit unerträglich werden.


Irgendwann hat Kahrl genug gehört. Vieles davon klingt unplausibel. S. sagt ständig, seine Erinnerung sei gestört. Dann erzählt er detailliert über seine Arbeit bei der ISAF. Warum er erst Jahre danach den Drohbrief bekommen hat, kann S. nicht erklären. „Ich kann den Taliban ja nicht sagen, wann sie mir einen Brief schreiben sollen."


Stoßlüften. Spaziergang für den Anwalt, ein Gang in die Geschäftstelle für den Richter. Acht Akten sind seit heute morgen in seinem Fach gelandet - Korrespondenzen mit dem BAMF, mit Anwälten, Ärzten. Danach über eine Stunde Bürokratie. Kahrl spricht sein Protokoll in ein Diktiergerät, der Kläger nickt die Rückübersetzung ab.


Gefährliche Geschäfteüber Google-Mail

Auch die zweite Anhörung zieht sich in die Länge. Saffiullah R. hat Schwierigkeiten zu erklären, wie er zusammen mit seinem Cousin Atique als Nebenjob während des Studiums eine Firma leiten konn-te, die über ein einfaches E-Mail-Konto bei Google hochsensible Aufträge für amerikanische Streitkräfte erhalten haben soll. Und warum Atique, nachdem er R.s Schwester nicht heiraten durfte, seinen Cousin an die Taliban verpfiffen hat, ohne dabei selbst in Gefahr zu kommen.


Stoßlüften. Richter und Anwalt einigen sich, den vierten Fall des Tages abzusagen. Nummer drei ist der Eisverkäufer. Er redet wenig und leise, sagt, er könne wegen eines Grundstückstreits nicht mehr in seine Heimat zurück.


Am Ende jeder Verhandlung richten alle drei Kläger mit zittriger Stimme Appelle an den Richter. Der Eisverkäufer sagt: „Ich bin durch zehn Länder gegangen, habe Hunger und Durst gelitten. Habe ich nicht ein Recht, mir eine Zukunft in diesem Land aufzubauen?"

Richter Kahrl protokolliert in sein Diktiergerät. Dann erklärt er, dass er verstehe, hier aber vor allem asylrechtliche Fragen zu klären hat. Grob vereinfacht lauten die: Wird der Kläger wirklich in seinem Heimatland verfolgt? Kann er in einer anderen Region seines Landes Zuflucht bekommen? Gibt es andere Gründe, etwa Erkrankungen, die gegen ein Abschieben sprechen?


Bei allen drei Fällen, die an diesem langen Montag in Saal 3101 des Verwaltungsgerichts verhandelt wurden, lauten Kahrls Antworten: Nein, Ja, Nein. Klagen abgelehnt. Ausreisepflichtig. Die Folgen der Urteile sind offen. Das Land Berlin schiebt nur in Ausnahmefällen nach Afghanistan ab. Kahrl konnte in drei Tagen drei Asylverfahren beenden. Im Januar sind im Verwaltungsgericht Berlin 1.117 Asylklagen eingegangen. Erledigt wurden 1.104. Die Erosion des Klagebergs, sie hat noch nicht begonnen.


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