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Dieser Berliner will syrische Folterer vor Gericht bringen

Der Anwalt al-Bunni will von Berlin aus das ungestrafte Morden in Syrien beenden und Kriegsverbrecher vor deutsche Gerichte stellen.


215, 227 und 235. Drei Zahlen ohne Bedeutung. Zumindest für die Menschen in jener Welt, in der Anwar al-Bunni vor knapp einem Jahr sein Büro bezogen hat. Auf einem alten Brauereigelände im Kollwitzkiez, mit verschachtelten Höfen und Klinkerbauten, haben Künstler Ateliers, Designer Werkstätten, Filmproduzenten Büros. In einem davon hat sich der syrische Menschenrechtsanwalt al-Bunni einen kargen Arbeitsplatz eingerichtet. An den Wänden hängt ein einziges kleines Plakat. „Haben Sie diesen Mann gesehen?", steht dort. Der Vermisste lächelt zaghaft und hat buschige Augenbrauen.


In der Welt, aus der Anwar al-Bunni geflohen ist, lösen die drei Zahlen Bilder in den Köpfen der Menschen aus, die kaum zu ertragen sind. Bilder von Folter mit Stromschlägen und Kabelpeitschen, Bilder von fensterlosen Kellerverliesen, in denen so viele Gefangene eingepfercht sind, dass sie sich aufeinanderlegen, um nicht im Stehen schlafen zu müssen. Die Abteilungen 215, 227 und 235 sind drei Folterkeller des syrischen Militärgeheimdienstes. Die Syrer nennen sie „Abteilungen des Todes".


Anwar al-Bunni ist 58 Jahre alt, ein schmächtiger Mann mit breitem Schnurrbart. Er will eine Botschaft aus der einen in die andere Welt schicken, aus dem Exil in die Heimat. Sie lautet: „Die Gerechtigkeit wird euch nicht vergessen." Diese Botschaft hat zwei Empfänger: die Folterer und die Gefolterten. Von seinem Berliner Hinterhofbüro aus will Anwar al-Bunni das ungestrafte Morden in Syrien beenden.


Gemeinsam mit einem syrischen Kollegen und der Berliner Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat al-Bunni Anzeige beim Generalbundesanwalt gestellt. Gegen sieben Männer mit zahlreichen Alias-Namen, führende Mitglieder des syrischen Militärgeheimdienstes, die Befehlshaber hinter den Folterknechten von Damaskus. Sie sollen verantwortlich sein für schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verübt von Syrern an Syrern in Syrien. Dennoch soll der Fall vor einem deutschen Gericht landen.


Eigentlich ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag für die Völkermörder dieser Welt zuständig. Aber Syrien ist kein Vertragsstaat, und der Assad-Verbündete Russland verhindert seit Jahren jede UN-Resolution und damit auch eine Verfolgung syrischer Kriegsverbrechen. Den Haag ist blockiert.


Jetzt hoffen die Berliner Anwälte auf Paragraf 1 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches. Demnach können Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Deutschland bestraft werden. Egal wo, wann und gegen wen sie verübt wurden. Juristen sprechen vom Weltrechtsprinzip. Einen Bezug zu Deutschland gibt es im Fall syrischer Kriegsverbrechen aber doch: Viele Folteropfer sind als Geflüchtete hierhergekommen. Sie zu finden, war die Aufgabe von Anwar al-Bunni.


Dazu musste der Syrer nicht viel mehr machen, als einen Facebook-Post zu schreiben. Hunderte hätten sich gemeldet, erzählt der Anwalt. 13 tauchen als Zeugen in der Strafanzeige auf, die der Berliner Morgenpost vorliegt, dort heißen sie Z1 bis Z13. Dass sich darunter keine Saboteure befinden, geschickt durch das Assad-Regime, sei vor allem al-Bunni zu verdanken, sagt Patrick Kroker vom ECCHR. „Er ist unsere Brücke zur syrischen Community."


Al-Bunni ist ein bekannter Mann in seiner Heimat, für seinen Kampf gegen politische Verfolgung durch das Assad-Regime wurde er 2009 mit dem Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes ausgezeichnet. Seit Mitte der 80er-Jahre hat er politisch Verfolgte verteidigt. Z5 zum Beispiel.


Sie lebt heute als Geflüchtete in Deutschland. Al-Bunni holte sie am Berliner Hauptbahnhof ab, umarmte sie, brachte sie zu den Rechtsanwälten des ECCHR. Ihnen erzählte Z5 ihre Geschichte. Von der Demonstration Ende 2014, von der Festnahme an einem Checkpoint in Damaskus, von dem Monat, den sie in der Abteilung 227 eingesperrt war. Nach zwei Wochen, so erzählt es Z5, hat man sie zum Verhör geholt, mit einem harten Plastikrohr geschlagen, immer wieder, zehn Stunden lang. Dreimal am Tag durfte sie auf Toilette. Eines Tages hörte sie dort ein Röcheln. „Da lag ein Mann, zugedeckt, die Decke voller Blut. Sein Gesicht war gelb, seine Knochen waren zu sehen", sagt Z5. Sie wollte dem Mann Wasser bringen. Daraufhin wurde ihr tagelang der Gang zur Toilette verwehrt. Den Mann trugen sie in ihre Zelle. Z5 musste dabei zuzusehen, wie sie auf ihn einschlugen.


Über Monate sammelten die Berliner Anwälte die Aussagen der 13 Zeugen, glichen sie mit Beweisdokumenten ab, mit Berichten von Beobachterorganisationen und den Fotos eines syrischen Fotografen, der im Auftrag des Militärs Leichen aus den Foltergefängnissen fotografiert und katalogisiert hat. Fast 50.000 seiner Bilder wurden geleakt und als „Caesar-Fotos" bekannt. Sie zeigen auch zu Tode gefolterte Gefangene aus den „Abteilungen des Todes".


Diese Puzzleteile fügte das ECCHR zu einem detaillierten Bericht über systematische Abläufe von Inhaftierung, Erniedrigung, Folter bis hin zur Tötung und Beseitigung von Leichen durch den syrischen Geheimdienstapparat zusammen. Eine Abhandlung der Entmenschlichung auf 108 Seiten. Die Anwälte kommen zu einem Schluss, den die Weltöffentlichkeit eigentlich schon lange kennt: Der syrische Staat führt eine massenhafte, geplante und dokumentierte Vernichtungspolitik gegen Menschen durch, die das Assad-Regime gegen sich glaubt.


Al-Bunnis Stimme schwillt an, wenn er in seinem Büro im Kollwitzkiez darüber spricht, wie der Westen seit Jahren die Augen vor Gräueltaten in Syrien verschließt. Die Aussicht auf eine politische Lösung mit Assad, dass sei von Anfang an die falsche Botschaft gewesen. „Für die Mörder heißt das: Nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht. Tötet so viele, wie ihr wollt. Am Ende gibt es eine politische Lösung. Dann kehren wir alles unter den Teppich", sagt al-Bunni.


Al-Bunnis Atem hält jetzt kaum noch Schritt mit seinem Monolog. Er reißt die Augen auf, die Namen Hitler und Mussolini fallen. „Wie kann man nur auf die Idee kommen, dass Menschen, die das Volk ihres Landes abschlachten, dieses Land wieder aufbauen sollen? Sind denn alle verrückt geworden?" Al-Bunni ist besessen von der Idee, das syrische Regime einer gerechten Strafe zuzuführen. Dabei bot ihm sein Leben viele Gelegenheiten, um den Glauben an die Gerechtigkeit zu verlieren.


Der Anwalt hat ausgerechnet, dass er, seine fünf Geschwister und andere Mitglieder der Dissidentenfamilie al-Bunni insgesamt mehr als 70 Jahre in politischer Haft verbracht haben. Über Jahrzehnte verteidigte er als Anwalt Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle in einem politischen System, das seine Angehörigen mit Gesetzen vor jeglicher Strafverfolgung schützt.


Als der Westen noch glaubte, man könne Baschar al-Assad durch Druck zur Einhaltung von UN-Konventionen bewegen, übernahm al-Bunni die Leitung eines unabhängigen Zentrums für Menschenrechte in Damaskus. Die EU finanzierte das Projekt, zwölf europäische Botschafter sagten al-Bunni bei der Eröffnung im Mai 2006 ihre Unterstützung zu. Elf Tage später wurde das Zentrum geschlossen, sein Leiter inhaftiert, zu fünf Jahren Gefängnis wegen „Verbreitung staatsgefährdender Informationen" verurteilt.


Die Europäer ließen das Regime gewähren, suchten dann die Annäherung an Syrien. Während al-Bunni in einer Zelle mit Schwerstverbrechern saß, geschlagen und mit dem Tode bedroht wurde, reiste Baschar al-Assad zu Staatsbesuchen nach Paris, der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) besuchte den Diktator in Damaskus.

2011, wenige Monate nachdem die Aufstände des Arabischen Frühlings Syrien erreicht hatten, kam al-Bunni frei. Er unterstützte die Demonstranten, aber der Kreis der Geheimdienste um ihn schloss sich schnell. Bald konnte er sein Viertel nicht verlassen, schließlich nicht einmal mehr sein Haus. 2014 flieht al-Bunni mit seiner Frau und drei erwachsenen Kindern mithilfe des Auswärtigen Amtes nach Berlin.


Ein Donnerstag in den U-Bahn-Katakomben unter dem Hermannplatz. Al-Bunni huscht über die Rolltreppe, eilt von einem Termin zum anderen. Weitere Strafanzeigen gegen Geheimdienstler sind in Vorbereitung. Vor wenigen Tagen ist er von einer Reise nach Paris und Amsterdam heimgekehrt. Al-Bunni will ein europäisches Netzwerk syrischer Exil-Anwälte knüpfen. Auf seinem Smartphone erreichen ihn Tag und Nacht Nachrichten von Kollegen in Damaskus.


Man könnte sagen: Anwar al-Bunni ist in seiner eigenen Welt gefangen. Es ist eine enge Welt, in der sein Blick auf einen Ausschnitt eines immer komplizierter werdenden Bürgerkriegs verengt ist, in dem auch Rebellen und Islamisten Kriegsverbrechen begehen. Al-Bunni klammert sich an einen verzweifelten Kampf gegen ein übermächtiges Regime. Und an die Hoffnung, eines Tages in seine Heimat zurückzukehren, beim Aufbau eines neuen Syrien zu helfen. „Wenn ich aufhöre, an meine Rückkehr zu glauben, bin ich tot", sagt er. Aber können deutsche Gerichte dabei helfen, das straflose Morden in Syrien zu beenden? Warum sollten sie das überhaupt?


Robert Frau, Experte für Völkerrecht an der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder, erklärt das so: „Es gibt Verbrechen, die so schwer wiegen, dass sie die Menschheit als Ganzes angehen." Und: Ohne das Weltrechtsprinzip sei eine Strafverfolgung von Kriegsverbrechen in Ländern ohne unabhängige Gerichte nicht möglich. Aber können deutsche Richter Urteile zu Taten fällen, die Tausende Kilometer entfernt begangen wurden?


Der erste deutsche Prozess nach dem Weltrechtsprinzip fand 2015 am Oberlandesgericht Stuttgart statt. Auf der Anklagebank: Zwei Anführer einer ruandischen Miliz, die von Mannheim aus Blutbäder an der kongolesischen Zivilbevölkerung angeordnet haben sollen. Der Prozess zeigte vor allem eins: Von Deutschland aus ist die Beweisführung kaum zu bewältigen. Über vier Jahre dauerte der Prozess, 320 Verhandlungstage, 50 Zeugen, 38 Leitz-Order nur mit Telekommunikationsprotokollen, übersetzt aus der Sprache Kinyaruanda. Kosten des Verfahrens: rund 4,8 Millionen Euro. Am Ende standen Haftstrafen von 13 und acht Jahren. Die direkte Beteiligung an den Massenmorden konnte den Angeklagten nicht nachgewiesen werden.


Völkerrechtsexperte Frau sagt, die Gerichte hätten dazugelernt. Die Bundesgeneralanwaltschaft ermittle immer genauer. In Karlsruhe ist eine eigene Abteilung mit Kriegsverbrechen und Völkermord im Ausland beschäftigt. Hauptfokus: der Irak und Syrien. Im vergangenen Jahr gab es mehrere Verurteilungen von Kriegsverbrechern in Deutschland. In Spanien sind bereits neun Vertreter des syrischen Militärgeheimdienstes wegen Staatsterrorismus angeklagt.


Wenige Wochen nachdem die Anzeige der Berliner Anwälte in Karlsruhe eingegangen war, begann das Bundeskriminalamt Z1 bis Z13 anzuhören. „Wir werten das als ein sehr gutes Zeichen", sagt Patrick Kroker von ECCHR. Al-Bunni hofft, dass die Bundesanwaltschaft noch im Herbst einen internationalen Haftbefehl gegen die Folterer in Damaskus erlässt.

Aber es gibt Einschränkungen für das Weltrechtsprinzip. Paragraf 153 der Strafprozessordnung etwa. Er erlaubt es den deutschen Behörden, von einer Verfolgung von Kriegsverbrechen abzusehen, wenn nicht davon auszugehen ist, dass die Verdächtigen je in Deutschland sein werden. Einen Prozess in Abwesenheit des Angeklagten sieht das deutsche Recht nicht vor.


Für den Generalbundesanwalt ist die Anzeige des ECCHR ein „wichtiger Beitrag" zu einem Ermittlungsverfahren, das Dutzende Ermittler der Bundeskriminalpolizei und Staatsanwälte in Karlsruhe seit 2011 beschäftigt, ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren, das die Gräueltaten aller Beteiligen im Syrienkonflikt im Blick hat. Ob al-Bunnis Botschaft der Gerechtigkeit wirklich ausgesprochen wird, ist fragwürdig. Denn selbst wenn ein internationaler Haftbefehl gegen die Folterer von Damaskus erteilt wird: An die Öffentlichkeit wird der Generalbundesanwalt damit nicht gehen. Nicht bevor die Verdächtigen ausreisen, gefasst werden.

Wer sich Anwar al-Bunni als gebrochenen Mann vorstellt, der irrt. Sein Gesicht ist gezeichnet von Lachfalten, nicht von Sorgenfalten. „Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an die Menschen, daran, dass Gott in jedem Menschen wohnt." Damit meint er auch die Folterer. Jeder versuche auf seine Weise, in einem unmenschlichen System zu überleben.

Al-Bunni erzählt von seinem engen Freund Khalil Ma'touq, auch ein Menschenrechtsanwalt. „Wenn Khalil niedergeschlagen war, dann kam er mich im Gefängnis besuchen, um gute Laune zu tanken."


Al-Bunni sieht seinen Freund mit den buschigen Augenbrauen jeden Tag. Er ist der Vermisste an der Bürowand im Kollwitzkiez. Seit 2012 fehlt jede Spur von Ma'touq, er wird in einem modrigen Verlies des Militärgeheimdienstes vermutet. In Abteilung 235. Ma'touq war schon vor der Verhaftung an der Lunge erkrankt. Wo ist Ma'touq? Al-Bunni sagt: „Ich denke, er ist tot. Aber ich glaube nicht daran."


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