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Der Tod riecht nach schlechtem Essen

Jährlich erkranken in Deutschland circa 2100 Kinder und Jugendliche an Krebs. Betroffene müssen Gedanken an das Sterben verkraften, ohne je richtig gelebt zu haben. Eine Geschichte aus Bad Reichenhall.


Dominics Jugend endet in einer Arztpraxis, wenige Wochen nach seinem 17. Geburtstag. Die Datumsanzeige seiner Uhr zeigt an: 25. August 2015. Der leicht übergewichtige Mann auf der anderen Seite des Tisches blickt ihn durch seine rahmenlose Brille tief in die Augen. Dominic vertraut ihm, obwohl er ihn heute zum ersten Mal sieht. Er wirkt kompetent in seiner weißen Kleidung, dem Kittel, so wie man sich halt einen kompetenten Arzt vorstellt. Mit ruhiger Stimme spricht der Arzt die Worte aus, die er die vergangenen Wochen noch so gut wie möglich zu verdrängen versucht hatte. Neben ihm bricht seine Mutter in Tränen aus. Dominic bleibt emotionslos: „Wie lange habe ich noch?“


Seit Dominic denken kann, hat ihn eine kleine Beule am rechten Schienbein begleitet. Ihm erschien es unwichtig. Deshalb behielt er es lieber für sich, sogar vor seiner Familie. Dass diese unscheinbare Wölbung etwas Ernstes sein könnte, merkt er erst mit 14, als er mit seinem besten Freund Fußball auf der Weitwiese spielt. Nach einem harmlosen Schlag gegen die Stelle, einem Schlag der normalerweise nicht einmal einen blauen Fleck hinterlassen hätte, durchzuckt den Jungen ein heftiger Schmerz. Die nächsten fünf Minuten kann er nicht mehr auftreten. Er zieht den falschen Schluss daraus: Einfach nicht mehr an dieser Stelle treffen lassen. 


Heute, fünf Jahre später, blättert der inzwischen 19-Jährige in seinem Kinderzimmer durch die alte Krankenakte wie durch ein Familienalbum und sagt: „Jugendlicher Leichtsinn. Den habe ich verloren.“ Die Wände um ihn herum sind bis oben hin zugepflastert mit Postern, Bildern von VW Golf 1 und Audis, mit deren Miniaturausgaben er früher über seine Carrera-Bahn im Keller gerauscht ist, sowie Andenken der Familienurlaube. Dominic selbst hat seine Haare nach hinten gezurrt und zu einem Zopf gebunden, wie Zlatan Ibrahimovic. Sein Kleidungsstil lässt sich als lässig beschreiben, nur die Goldkette um seinen Hals wirkt deplatziert. Er habe zwar noch eine Kette mit einem Kreuz, sagt er. Die habe er aber schon lange nicht mehr getragen. 


An die Beule, die ihn so lange begleitet hat, erinnert eine, durch eine kahle Stelle hervorgehobene, Narbe. Die Socke am rechten Fuß hat er bis zum Fußballen vorgezogen. Selbst anderthalb Jahre nach der OP schmerzt allein der geringe Druck einer einfachen Socke auf die Narbe. Auch sein Gang hat sich verändert. Er humpelt leicht. Den rechten Fuß an sich spürt Dominic fast nicht mehr. Die Zehen kann er nicht, und das Fußgelenk nur schwer, bewegen. 

„Ich bin erst zum Arzt gegangen, nachdem ich gemerkt habe, dass ich bei meiner ersten Fahrstunde die Geschwindigkeit nicht kontrollieren konnte. Ich habe immer viel zu viel Gas gegeben, weil ich meinen Fuß nicht richtig abwinkeln konnte.“ Auch diesmal zieht er den falschen Schluss: Er gibt einfach mit dem ganzen Bein Gas. 


Erst, nachdem er die Führerscheinprüfung bestanden hat, lässt er sich in Bad Reichenhall röntgen. In seinem Ordner ist das dort entstandene Bild fein säuberlich abgeheftet. 3. August 2015. Ein leichter weißer Schatten auf einem schwarzen Bild zeigt zum ersten Mal das, was er später grinsend „meine Tomate“ nennt. Der Arzt weiß sofort, dass es ein Tumor ist. Die wichtigste Frage kann er jedoch nicht beantworten: gut- oder bösartig?


„Die Situation war total surreal. Man fühlt sich gesund und ist gleichzeitig todkrank“, sagt Dominic. Deshalb überredet er seine Familie, den lange geplanten Urlaub nicht abzusagen und erkundet mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester für zwei Wochen Estland, Lettland und Finnland: „Ich habe während des Urlaubs eigentlich kein einziges Mal gedacht, es könnte etwas Schlimmes sein.“ 

So vergehen fast drei Wochen bis er mit seinen Eltern zur Biopsie nach München fährt, um diese, die wichtigste, Frage zu klären. Erst auf der zweistündigen Fahrt dämmert ihm, was Krebs für ihn bedeuten könnte. Er verspürt den Drang, die Hand aus dem Autofenster zu halten. Plötzlich fühlt er die Luftmoleküle durch seine Finger gleiten. In wenigen Kilometern wird er zum ersten Mal den Arzt mit der rahmenlosen Brille treffen. 


Um herauszufinden, wie lange Dominic „noch hat“, wie seine Überlebenschancen stehen, muss Dominic eine Biopsie und ein PET-CT über sich ergehen lassen. Es werden Gewebeproben entnommen und Bilder vom „Inneren“ seines Beines gemacht. Die Auswertung dauert sechs Tage. Am 25. August 2015 beginnt die schlimmste Woche in Dominics Leben.


Warum ich?


In diesen sechs Tagen schläft Dominic vielleicht drei bis vier Stunden, insgesamt. Er kämpft mit seinem Zustand zwischen Leben und Tod – ein bisschen wie bei Schrödingers Katze. Am Tag trifft er seine Freunde, um sich abzulenken. Aber alles fühlt sich für ihn anders an. Die Gespräche, das Gelächter, die Luft – alles ist irgendwie intensiver. In der Nacht liegt er wach in seinem Bett und starrt an die Decke. Er malt sich aus, wie das Leben im Krankenhaus sein wird. Findet er Freunde, vielleicht eine Freundin? Er überlegt sich, dass er gerne einen VW Golf 1 hätte. Warum, weiß er nicht. Er denkt an vergangene Urlaube und wo er vielleicht noch hin möchte. Insgeheim hofft er, dass einer seiner Freunde organisieren kann, dass einer seiner Handball- oder Fußballhelden ans Krankenbett kommt, wie man es im Fernsehen immer mal wieder sieht. Oder, dass sich seine Klasse den Kopf rasiert, um sich solidarisch mit ihm zu zeigen. 


Aber je weiter er denkt, desto dunkler werden die Gedanken. „Ist man eine Belastung für seine Familie? Nehme ich mit meiner Krankheit ihr Glück? Ich bin der Jüngste. Ich darf meinen Eltern, meiner Schwester das nicht antun. Ich werde ewig Ballast sein.“ Irgendwann ist Dominic so weit, dass er seine Beerdigung plant. Auf dem Grabstein soll ein lustiger Spruch stehen, dass die Leute nicht weinen. Mit seinem VW Golf 1 will er selbst zum Grab fahren. „Total absurd. Ich wäre ja tot“, sagt er heute und lacht. 

Der Hauptgedanke, der ihn über die ganzen sechs Tage begleitet, ist: „Warum ich?“ Er versteht nicht, warum Gott so etwas zulassen sollte. Der Glaube, sein Anker, an dem er sich in schlechten Zeiten festgehalten hatte, beginnt zu rosten. Der Grund ist aber nicht, weil er sterben muss. Er hat keine Angst vor dem Tod, hatte er noch nie. Der Grund ist das Leiden seiner Familie, seiner Freunde und zuletzt von ihm selbst. Das Sterben sei doch nur, er zückt die Schultern und hebt seine Handflächen nach oben, während er mit sanfter Stimme weiter spricht: „Pff, vorbei.“ 


„In dieser Woche habe ich beschlossen, an mich selbst zu glauben“, sagt Dominic und schlägt sich dabei auf seinen Oberschenkel, als wolle er sicherzustellen, dass seine Botschaft auch wirklich verstanden worden ist. „Nachdem ich das kapiert habe, war die Diagnose eine Erleichterung für mich.“ 


Zurück in München, in der Praxis des vertrauensvollen Arztes mit rahmenloser Brille. Es ist der 1. September. Beide schütteln sich die Hände. Der Arzt lächelt und zeigt auf ein Bild seines rechten Beines. Das Geschwülst darauf erinnert Dominic an eine Tomate. „Keine Metastasen“, sagt der Arzt. „Es ist heilbar.“ Dominic wird leben, zu 90 Prozent. 


Schon eine Woche später beginnt die Chemotherapie. Seine Eltern quartieren sich während dieser Zeit bei Freunden ein, um so nah wie möglich an ihm zu sein. Als sich die Sicherheitstüren zur Krebsstation öffnen, schlägt ihm ein beissender Geruch entgegen, eine Mischung aus schlechtem Essen und Desinfektionsmittel. Eine Schwester sagt zu ihm, während sie ihm die Dusche seines Zimmers zeigt, dass er sehr lange hier bleiben wird. Dominic antwortet: „Ich bleibe keine Sekunde länger in diesem Laden, als ich muss.“


Danach bekommt er ein sogenanntes Portsystem in die Brust eingenäht. Dieses Portsystem muss er bis zur letzten Chemotherapie tragen. Es sieht ein bisschen wie bei Ironman aus. Dadurch werden ihm in den folgenden Monaten die Krebsmedikamente in die Hauptschlagader gepumpt. Nach der Behandlung werden die Medikamente dann mit einem Liter Wasser pro Stunde wieder aus seinem Körper gespült. Die Narben davon trägt er noch heute.


Über die kommenden Monate wird er alle zweieinhalb Wochen drei Tage auf der Kinderkrebsstation verbringen. Von seinen anfänglichen Hoffnungen auf Freundschaft und Zusammenhalt verabschiedet er sich schon bei der zweiten Chemotherapie. „Man ist zu KO, um fünf Minuten zu stehen, geschweige denn Freunde zu finden.“ Generell ist nichts so, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Die meiste Zeit verbringt er im Bett, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen aufgrund der hohen Medikamentendosis. Nur das mit dem Haarausfall stimmt.

Wenn er schläft, kann er oft nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden. Ein paar Mal hat er hyperrealistische Albträume, in denen etwas bei seiner Chemotherapie falsch läuft. Er ist gelähmt und muss hilflos dabei zusehen, wie die Ärzte versuchen ihn zu retten. Jedes Mal, nachdem sein Blick im Traum verschwimmt, wacht er schweißgebadet auf und muss sich von einer Schwester versichern lassen, dass alles nicht echt war. 


Wenn er nicht schläft, starrt er an die orange Wand, zählt die Stunden bis er nach Hause kann. Er hört das Piepen seines Pulses über die Maschinen neben seinem Bett und versucht es zu manipulieren. Auf dem Klo stoppt er die Zeit, wie lange er pissen kann. Sein Rekord liegt bei sechs Minuten. Wenn seine Familie ihn besucht, ist er meistens so apathisch, dass seine Schwester für ihn die Figuren bei „Mensch ärgere dich nicht“ verschieben muss. 


Am Ende der drei Tage sitzt Dominic oft vor seiner Zimmertür, weil die Betten für neue Patienten gebraucht werden. Während er sich, nach drei Tagen hungern, Essen in seinen Mund zwängt, das nicht im Entferntesten so schmeckt, wie es schmecken sollte, beobachtet er dann das hektische Treiben der unterbesetzten Schwestern und Ärzte. „Ich habe auch Kinder gesehen, die waren nicht einmal drei Monate alt und hatten Krebs. Da kann man nicht einmal mit Karma argumentieren“, sagt Dominic heute mit leerem Blick. Auf dem Platz vor seinem Zimmer verliert er seinen letzten Rest Religiösität.


In den zweieinhalb Wochen zuhause sehnt er sich nach Alltag und Menschen. In dieser Zeit zerbrechen viele Freundschaften, andere werden gestärkt. „Vor meiner Diagnose hätte ich mir nie vorstellen können, einen Freund in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, wie viel er mir bedeutet“, sagt Dominic. Kranke müssten nur wissen, dass andere für sie da wären. Wenn nicht, dann wäre er auch nicht für sie da. Seine Operation zur Entfernung des restlichen Tumors verschiebt er um drei Tage, weil er beim Krampuslauf dabei sein möchte. Er geht außerdem, gegen den Rat seiner Ärzte, weiter zum Handballtraining. Wenn er auch nicht wirklich mitmachen kann, da für ihn bereits Treppensteigen zu einem Marathon wird. Die Zeit mit seinen Freunden gibt ihm Kraft, weiterzumachen. 


Alles ändert sich


Am Tag seiner letzten Chemotherapie, der neunten, öffnet sich für Dominic zum letzten Mal die Sicherheitstür zur Krebsstation. Es herrscht der übliche Stress, die übliche Müdigkeit. Nur  der beissende Gestank ist auf einmal verschwunden. Er war nicht eine Sekunde länger hier, als er musste. „Das hat noch keiner geschafft, außer mir“, sagt er und grinst. Nach drei Tagen ist alles vorbei. Der Abreißkalender an der Wand zeigt Donnerstag, den 19. April 2016, als ihm die Ärzte nach sieben Monaten das Portsystem aus der Haut schneiden. 


„Das war ein unbeschreibliches Gefühl“, sagt Dominic. Mit dem Ende der Therapie kam aber auch das Ende der Blase, in der er sich für ein dreiviertel Jahr befand. Sein ganzes Umfeld hat sich geändert. Auch Dominic hat sich geändert. Er ist innerlich mehrere Jahre gealtert, ist ernster und zielstrebiger geworden. Wenn er mit Frauen spricht, denkt Dominic nicht jetzt mehr daran, wie sie in seinem Bett aussehen würden. Jetzt spricht er darüber, dass er ein Buch schreiben will, dass er nach dem Abitur nach Kanada will, dass er danach nach Leipzig BWL studieren will, dass er irgendwann heiraten will, dass er mit einem VW Golf 1 zum Altar fahren will. 

Dominic erzählt, dass ihn ein Mädchen für diese Aufzählung einmal ausgelacht habe. Er hätte ihr dann ganz ernst ins Gesicht geblickt und gefragt: „Hast du keine Träume?“ Sie habe dann nur noch gestammelt: „Nein, nicht wirklich.“ Als Dominic diese Geschichte erzählt, hat er ein triumphierendes Grinsen auf den Lippen: „Das ist der Unterschied zwischen mir und den meisten anderen.“ 


Trotzdem würde er das, was er durchgemacht hat, nicht einmal ärgsten Feinden wünschen. Der Krebs wird ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Jeden Tag erinnert ihn allein das Tragen von Socken daran, was er durchstehen musste. „Meistens lasse ich es nicht an mich ran“, sagt Dominic. Aber manchmal überkommen ihn die Gefühle, der Hass auf diese Krankheit. Auslöser können dann Kleinigkeiten sein. Zum Beispiel, wenn er über seine Füße stolpert. Das passiert öfter, seit ein Großteil der Muskeln in seiner rechten Wade fehlen. Manchmal läuft er tagelang mit gebrochenen Zehen herum, weil er sie nicht mehr spüren kann. Die Wut kann er dann noch für ein paar Minuten verdrängen. Irgendwann bricht er unweigerlich in Tränen aus. 


Außerdem: Egal wie detailliert Dominic seine Zukunft planen sollte, der Krebs kann sie jede Sekunde wegwischen. Das Risiko zur Wiedererkrankung beträgt 10 Prozent. Alle drei bis sechs Monate muss er deshalb zum Arzt. Die Chemotherapie könnte ihn außerdem unfruchtbar gemacht haben. Die Tests dazu stehen noch aus. Was aber sicher ist, dass auch sein Gehirn nicht mehr das selbe ist. Er muss Sätze mehrmals lesen, weil er am Ende bereits den Anfang vergessen hat. In der Schule kann er sich nicht über längere Zeit konzentrieren, tut sich schwer Aufgaben zu verstehen, obwohl er sie eigentlich schon 100 Mal korrekt gelöst hat. Während Konzentrationsphasen schläft er außerdem regelmäßig ein. 


„Trotzdem habe ich letztendlich einen guten Schnitt geschafft“, sagt Dominic und lehnt sich in seinen Stuhl zurück. Inzwischen ist er zwischen Freunden, Mitschülern und seiner Familie.  Es gibt etwas zu feiern. Heute hatte er nicht nur dieses Gespräch, sondern auch seine letzte schriftliche Abiturprüfung. Eine Gedichtanalyse in Deutsch. Er ist fünf Mal eingeschlafen, hat aber trotzdem nur eine halbe Stunde nach seinen Mitschülern abgegeben. Während er den Leuten von der Symbolik der Tiere im analysierten Gedicht erzählt, von der Aufklärung, von der Gesellschaft zu Lebzeiten des Autors, starrt ihn ein Mitschüler mit leicht geöffnetem Mund an: „Ich habe auf sechs Seiten gestreckt, dass der Autor von einem Karussell geschrieben hat und ein paar Stilmittel hinzugefügt.“ Dominic antwortet: „Die blöden Stilmittel, die wollten mir, auf Teufel komm raus, nicht mehr einfallen.“ Aber so funktioniere sein Gehirn jetzt. Ein kleiner Preis für das Leben.


„Ich muss einfach härter arbeiten, für das, was ich erreichen möchte“, sagt Dominic. „Gleichzeitig habe ich auch gelernt, wie wertvoll meine Zeit ist. Deswegen mache ich heute viele Dinge, die ich vor meiner Krankheit nach hinten geschoben hätte.“ Als sich die Party langsam auflöst und Familie und Freunde die letzte Sentimentalität über die Schulzeit ausgetauscht haben, will Dominic noch etwas zeigen. Er öffnet die Garagentür. In der Dunkelheit erkennt man die Frontlichter eines VW Golf 1. Es war das erste, was er sich nach der Chemotherapie gekauft hat.