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Sozialleistungen: Der Staat bestraft diejenigen, die mehr arbeiten wollen

Mit der Grundsicherung, Wohngeld und Kindergeld sollen Menschen mit geringem Einkommen unterstützt werden, bis sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Aber genau das verhindert der Staat.


Rund 150 Sozialleistungen gibt es - jede einzelne davon ist sinnvoll. Die Leistungen sind aber teilweise so schlecht aufeinander abgestimmt, dass viele Betroffene Hunderte Euro brutto im Monat mehr verdienen könnten, am Ende jedoch für sie weniger Netto bleibt. Das wirft die Frage auf: Warum sollte ein Einzelner mehr arbeiten, wenn am Ende weniger bleibt?

Das zeigt, wie der Staat in manchen Fällen gegen jede marktwirtschaftliche Logik handelt. So sagt ifo-Präsident Clemens Fuest: „Unser gegenwärtiges System ist schädlich. Es bestraft Leistung dort, wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch eigene Anstrengung der Abhängigkeit von Sozialleistungen entkommen will."


So funktioniert das Grundsicherungssystem aktuell

Etwa 1,4 Millionen Deutsche beziehen Grundsicherung, Wohngeld und/oder Kindergeld, weil ihr Job allein fürs Überleben nicht reicht. Viele arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen, in Teilzeit oder gehen Minijobs nach.


Wenn sie irgendwann wieder mehr arbeiten wollen, sollte sich das auch finanziell auszahlen - soweit die Theorie. Dass das in der Praxis oft nicht geschieht, liegt nicht nur daran, dass ab einem gewissen Einkommen Einkommenssteuer und Sozialbeiträge fällig werden. Wer Sozialleistungen bezieht, hat sicher schon einmal etwas von den sogenannten Transferentzugsraten gehört. Die legen fest, wie stark die sozialen Leistungen sinken, je mehr man verdient.


Für Bezieher der Grundsicherung bedeutet das, dass sie, wenn sie mehr verdienen wollen, zwischen 80 und 100 Prozent ihres Bruttoeinkommens abgeben müssen. Sie würden durch einen Job also im besten Fall 20 Prozent mehr verdienen als mit Grundsicherung - oder halt genauso viel wie mit der Grundsicherung. Da nur Zuverdienste bis maximal 100 Euro abschlagsfrei sind, lohnt sich selten ein Job, der mehr abwirft.


Das führt dazu, dass viele in Mini-Mini-Jobs arbeiten, um die 100-Euro-Grenze nicht zu überschreiten. Wer will es einer Mutter übelnehmen, die sie sich gegen einen 450-Euro-Job entscheidet, wenn ihr am Ende des Monats mit einem 100-Euro-Job kaum mehr Geld, aber viel weniger Zeit mit ihrem Kind bleibt?


Wie äußert sich das in der Realität?

Was diese Abstimmungsfehler konkret für die Betroffenen bedeuten, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in ihrer Studie „ Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich stärken " ausgerechnet.


Die Forscher zeigen anhand mehrerer Beispiele, wie skurril die Regelungen für Empfänger von Sozialleistungen sind. Zur Verdeutlichung schauen wir uns exemplarisch einen Fall näher an: <Bild fehlt> 


Das Ehepaar Müller hat zwei Kinder, eines ist zwei und eines zehn Jahre alt. Ohne Erwerbseinkommen hat die Familie monatlich 1933 Euro zum Leben, davon 1545 Euro Grundsicherung und 388 Euro Kindergeld. Jetzt beschließt Frau Müller, in ihren alten Job zurückzukehren. Herr Müller kümmert sich weiter um die Kinder.


Sie rechnet jetzt durch, wie viel sie jeden Monat brutto verdienen müsste, um netto möglichst viel rauszubekommen. Ihr fällt auf, dass sie bei einem Gehalt von 1200 Euro nur ein paar Euro netto mehr hätte, als wenn Sie 1500 Euro verdienen würde. Erst ab 1560 Euro würde sich Mehrarbeit in ihrem Beispiel wieder richtig lohnen. Dann fällt sie aus der Grundsicherung und bekäme nur noch einen Kinderzuschlag und Wohngeld.


Zusätzlich erhöht sich der Wohngeldanspruch schlagartig mit dem Einsetzen der Einkommensteuerpflicht bei knapp 1.900 um etwa 70 Euro auf gut 250 Euro. Netto wären das 2.450 Euro. Bis sie dann 2800 Euro brutto verdienen würde, würde sich Mehrarbeit für sie nicht fast mehr lohnen, weil die Nettlohn-Kurve nur um wenige Euro nach oben geht.


Das Sozialsystem kann zur Falle werden

Aus dem Sozialsystem ganz auszuscheiden, ist immens schwierig. Dafür müsste Frau Müller bei einer 40-Stunden-Woche etwa 16 Euro pro Stunde verdienen, um dann auf einen Betrag von 2800 Euro brutto zu kommen. Netto würde sie jedoch so viel bekommen, als würde sie für 1900 Euro im Sozialsystem arbeiten.


Es gibt noch viel mehr absurde Beispiele

Im Bericht wimmelt es an absurden Beispielen. So verdienen Alleinstehende 1058 Euro netto pro Monat - egal ob sie brutto 1200 Euro, 1420 Euro oder einen Betrag dazwischen verdienen. Alleinerziehende mit zwei Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren, die keinen Unterhalt beziehen, bekommen bei einem Bruttolohn von etwa 2500 Euro netto genauso viel, wie ihnen bei 1300 Euro brutto zustehen würde. Paare ohne Kinder erhalten zwischen 1200 Euro und 1900 Euro brutto immer den gleichen Nettolohn.


Ökonomen verzweifeln am politischen Prozess

Vor Kurzem hat das ifo-Institut ein eigenes Reformmodell vorgestellt. In dem Papier konzentrieren sich die Ökonomen nur auf die Grundsicherung, ohne verschiedene Leistungen zusammenzufassen. Sie würden sich zwar ein aufeinander abgestimmtes Gesamtsystem wünschen, räumen einer solchen grundlegenden Reform im politischen Prozess jedoch kurzfristig kaum Chancen ein.


Das Institut spricht ganz offen davon, dass es Gewinner und Verlierer geben werde. Ihr Vorschlag bevorteilt Menschen mit Kindern gegenüber kinderlosen Menschen. Der Grund: Menschen ohne Kinder könnten Einkommensverluste einfacher als Menschen mit Kindern durch Mehrarbeit kompensieren.


Der Zuverdienst von Kinderlosen soll deshalb bis zu einem Bruttoverdienst von 630 Euro pro Monat um 100 Prozent angerechnet werden. Das heißt, dass sie bis dahin praktisch weiterhin den Betrag der Grundsicherung beziehen. Über dieser Grenze soll sich das Arbeiten dann aber richtig lohnen. Dafür schlagen die Forscher vor, die Transferentzugsrate auf 60 Prozent zu senken, anstatt sie auf 80 bis 100 Prozent zu belassen.


Für Menschen mit Kindern soll der Freibetrag von 100 Euro bleiben. Bis zur Grenze von 630 Euro soll die Transferentzugsrate dann starr bei 80 Prozent liegen. Darüber sind dann beide Gruppen wieder gleichgestellt.


Außerdem soll das Schonvermögen erhöht und an die Arbeitsbiographie gebunden werden, falls man in die Grundsicherung rutschen sollte. Menschen würden nach einem langen Arbeitsleben nicht mehr so hart getroffen werden.


Lösungsvorschlag könnte Beschäftigung um 216.000 Vollzeitstellen erhöhen

Diese Reform würde die Beschäftigung im Umfang von 216.000 Vollzeitstellen erhöhen, die Einkommensungleichheit senken und den Staatshaushalt sogar leicht entlasten, glaubt Ifo-Präsident Clemens Fuest. Mehr Arbeit auch bei niedrigerem Stundenlohn würde sich wieder lohnen und Betroffene könnten einfach aus dem Sozialsystem entkommen. Bei der Vorstellung der Reform gab sich der ifo-Präsident deshalb selbstsicher: „Das ist eine Reform, die man kaum ablehnen kann."


Der Ball liegt jetzt bei der Politik. Die Fallbeispiele zeigen, dass Handlungsbedarf besteht. Leider sind die Zuständigkeiten komplex und das Thema ist nur bedingt sexy. So lange sich also das System nicht ändert, kann man es den Betroffenen nicht übel nehmen, das meiste aus ihrem Lohn herauszuholen.

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