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Neues Leben statt Leerstände: Wie ein Dorf in Deutschland den fatalen Trend besiegt

Verrückte Ideen und harte Arbeit gegen fatalen Trend. Fotos: Diana Bailey

In Perlesreut war das Dorfleben eigentlich schon tot. Geschäfte schlossen. Ladenfenster blieben immer öfter leer - bis dies die ansässigen Unternehmer nicht länger hinnehmen konnten. Mit neuen Ideen, verrückten Aktionen und harter Arbeit haben sie wieder ein neues Gemeinschaftsgefühl geschaffen.


Hinter tannenbewachsenen Hügeln, am Ende serpentinenförmiger Straßenzüge liegt Perlesreut. Verfahren kann man sich hier nicht. Es gibt nur eine Straße. Noch vergangenes Jahr waren die Schaufenster an deren Rand mit Karton verklebt. Heute werden Besucher am Ortseingang von einem großen goldenen Schild begrüßt. Darauf steht: „Unser Dorf hat Zukunft".


Dorf ist zu klein für große Ketten

Die Geschichte der Neuerfindung Perlesreuts beginnt mit dem Niedergang der Drogeriemarktkette Schlecker. Als 2012 die Marktleiterin das letzte Mal den Schlüssel umdrehte, standen im Herzen des Dorfplatzes plötzlich 600 Quadratmeter Verkaufsfläche frei.


Die paar anderen Leerstände am Rande des 3000-Einwohner-Dorfes hatte man bis dahin noch übersehen können. Aber kein großer Einzelhändler wollte mehr in den Ortskern. Es rechne sich nicht, sagte man den Perlesreutern. Und die Perlesreuter verstanden. Man konnte einfach nicht mehr so weitermachen wie zuvor.


Leerstände sind ein Teufelskreis

Verwahrloste Städte verursachen verwahrloste Seelen, zitiert Manfred Niggl den ehemaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel. Niggl besitzt einen Laden für Autoteile am Rande von Perlesreut. Er ist außerdem Vorsitzender der örtlichen Werbegemeinschaft, die die Modernisierung Perlesreuts vorantreibt. Niggl erklärt: „Mit jedem leeren Schaufenster sinkt die Anzahl der Gründe im Ort einzukaufen. Und weniger Kunden bedeuten wiederum weitere leere Schaufenster."


Das Problem greife jedoch noch viel weiter. Den Kommunen fehlten durch Abwanderung in den Onlinehandel und die großen Einzelhandelsketten in anderen Orten irgendwann die finanziellen Mittel, Schwimmbäder, kulturelle und soziale Angebote weiter zu finanzieren, erklärt Niggl.


Eine neue Idee entsteht nach langen Diskussionen

Gemeinsam mit der Gemeinde musste man diesen Teufelskreis unbedingt durchbrechen. Zwei Jahre nach dem Aus von Schlecker hatte die Gemeinde genug Geld zusammen, um den Grundstein für eine Wiederbelebung des Ortskerns zu legen. Die Gebäude wurden restauriert und die Straße neu gepflastert.


„Wir hatten nun einen so schönen Ortskern. Dieser durfte auf keinen Fall veröden", erzählt Niggl. Am Anfang sollte der ehemalige Schlecker stehen. Die Werbegemeinschaft führte unzählige Diskussionen, bis an deren Ende ein einzigartiges Konzept stand. Die Idee: Wenn ein großer Verkäufer die Verkaufsfläche nicht füllen kann, können es vielleicht viele kleine. Das Konzept für die sogenannten „Mikroläden" - eine Art Mini-Shoppingzentrum von Perlesreutern für Perlesreuter - war geschaffen.


Billiger Verkaufsraum für Ortsansässige

Gegen eine geringe monatliche Miete sollten die Verkäufer ihre eigenen Produkte über kleine Ladenzeilen innerhalb des ehemaligen Schleckers verkaufen. Die verkauften Produkte sollten dann über ein gemeinsames Kassensystem abgerechnet werden. Dies würde die Kosten noch weiter senken.


Die Nichte des Sportgeschäft-Inhabers, eine Architektin, fertigte Pläne an. Die verschiedenen „Mikroläden" sollten zueinander durch ein Baukastensystem aus Wänden abgetrennt werden. So könnte man flexibel auf die Anforderungen der Verkäufer reagieren. Der Vermieter hatte außerdem schon einer kräftigen Mietminderung zugestimmt.


So sieht ein toter Ortskern aus

Der Freude folgte jedoch ziemlich schnell Resignation. Die Idee wurde von den Bewohnern Perlesreuts nicht angenommen. Doch anstatt aufzugeben, gingen die Perlesreuter Unternehmen auf große Werbetour. Zwei Jahre dauerte die Suche. Eine örtliche Unternehmerin stieg in das Projekt ein und stemmte alles alleine. Anstatt verschiedener Mikroläden teilte sie den Laden in Produktinseln ein. „Bewohner aus dem ganzen Dorf haben ihr Holz geschenkt, aus dem sie und ihr Mann die ganze Einrichtung selbst gebaut haben", erinnert sich Niggl.


Das Geschäft lief anfangs schleppend. Auch Flyer und Annoncen im Gemeindeblatt halfen nichts. Die Perlesreuter kauften weiterhin nicht im Ortskern ein. Die Werbegemeinschaft musste radikaler werden. Eines Sonntagnachts verklebten daraufhin alle Ladenbesitzer ihre Schaufenster mit Pappkarton. „Wir wollten zeigen, wie ein toter Ortskern aussieht", sagt Niggl.


Die Perlesreuter waren geschockt. Eine Woche lang blieb der Karton kleben. Der Marktplatz lebe nun wieder, sagt Niggl. „Diese Aktion hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Menschen haben dadurch gemerkt, wie wichtig Geschäfte für einen Ort und das Zusammenleben sind."


Alles neu

Auf diesem Erfolgserlebnis baute man auf. Niggl gab die Devise aus: Jetzt nur nicht aufhören. Im Herbst diesen Jahres soll eine Verkaufsplattform mit allen Unternehmen aus der Region folgen. Kunden könnten dann online Preise zwischen den lokalen und überregionalen Unternehmen vergleichen sowie Aktionen wahrnehmen. „Wir können das Internet nicht verbannen. Deshalb können wir es genauso gut auch selbst nutzen", erklärt Niggl.


Man arbeite außerdem daran, den Service und die Beratung in jedem Geschäft zu verbessern. „Das gute an kleinen Läden ist: Wir können Feedback direkt umsetzen. Meistens bedient sogar der Chef die Kunden. Das können große Ketten nicht leisten", sagt Niggl überzeugt. Durch einen Dekorationswettbewerb gehören verstaubte und langweilige Schaufenster ebenfalls der Vergangenheit an.


Perlesreut sucht gerade weitere Pächter, um irgendwann gar keine Leerstände mehr zu haben. Er stellt sich ein Café vor, in dem man gemütlich draußen sitzen könne. Es sei Eigeninitiative, Kreativität und Liebe gefragt, sagt Niggl. „Erst dann bist du erfolgreich und für die Zukunft gerüstet."

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