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Ihr spinnt doch?!

Mit Reparatur-Cafés, Kleidermärkten oder Spinn-Kursen besinnen sich junge Menschen auf den Lebensstil ihrer Omas und Opas zurück - und setzen ein Zeichen gegen eine gestresste Wegwerfgesellschaft. Vereinter, organisierter und mit der Absicht, nicht nur ein Trend zu bleiben, sondern die Gesellschaft nachhaltig nachhaltig zu machen.


Als Verena ihre Großmutter bat, ihr doch bitte häkeln beizubringen, war sie acht. Topflappen wollte sie machen, um sie ihr dann zum Geburtstag zu schenken. "Sie benutzt sie bis heute noch", sagt sie stolz und bohrt ihren rechten Zeigefinger in den Tisch, um ihren Punkt deutlich zu machen.


Verena ist Passauerin. Nachdem sie in München ihr Abitur bestanden hatte, kam sie zum Studieren wieder zurück. Sie spricht normalerweise sauberes Hochdeutsch ohne ein Fünkchen Dialekt darin. "München halt", kommentiert sie das lapidar. Ihre "Ommi", wie sie sie nennt, hat sie geprägt. Wenn Verena über sie spricht, verfällt die Studentin ins Niederbairisch und beginnt an ihrem Pullover zu zupfen. Der ist für ihre schlanke Figur viel zu lang und zu weit. "Kein Wunder", erzählt die 24-Jährige lachend, "der ist ja auch von meiner ‚Ommi'. Sie hat ihre Sachen immer gepflegt. Dinge, die halten: Das ist die beste Form von Nachhaltigkeit." Wenn sie etwas stricke oder häkle, halte das zehn Jahre, meint die Studentin, Billigkleidung heutzutage höchstens eine Saison.


"Geplante Obsoleszenz ist das", sagt Stefan Kaiser von Greenpeace Deggendorf. Für ihn ist es ein Unwort. Firmen würden absichtlich Fehler in Produkte einbauen, um Kunden indirekt dazu zu zwingen neue Produkte zu kaufen und die alten wegzuwerfen. Eine riesige und unnötige Verschwendung, gegen die der 32-Jährige etwas unternehmen wollte. Im Winter 2015 erfuhr er von einem Trend in den Niederlanden, der in Deutschland noch nicht angekommen war - den Reparatur-Cafés. Das Konzept eines Reparatur-Cafés ist simpel: Man bringt etwas Kaputtes mit und versucht gemeinsam mit Fachleuten die Sachen selbst zu reparieren: "Gemeinsam helfen. So kommen Jung und Alt zusammen." Davon ist er fest überzeugt.


Der erste Schritt war eine Facebook-Seite zu erstellen. Wollen die Deggendorfer das überhaupt? Das Feedback überraschte sogar Kaiser. Innerhalb weniger Tage hatte die Seite 200 Likes und fremde Leute schrieben ihm, ob sie helfen könnten. Da begann Stefan zu organisieren und rekrutieren - ein Jahr lang. Neben Greenpeace sind inzwischen der Bund Naturschutz, der Verein für katholische Erwachsenenbildung und der Verein "Global Local" dabei. Anfang März fand in einem kleinen Café in Deggendorf dann endlich das erste Deggendorfer Reparatur-Café statt. Am 18. Mai ist der nächste Termin.


"Wir sind ein bunter Haufen. Es gibt einen Elektriker, einen Schreiner und einen Radio- und Elektrotechniker. Nach einem Aufruf in der Deggendorfer Zeitung ist eine alte Dame spontan mit ihrer Nähmaschine gekommen und hat Hosen und Pullover geflickt", erzählt der Aktivist.

Das Internet habe viel für nachhaltige Lebensstile getan, meint auch Chantal-Manou Müller. Die 33-Jährige ist Handspinnerin. Angefangen hat sie mit Stricken, die einzigen für sie bezahlbaren Garne waren ihr qualitativ einfach zu schlecht oder aus Plastik oder sie wusste nicht, wie die Tiere gehalten wurden, von denen die Wolle kam. "Da hab ich mir einfach gedacht ‚Scheiß drauf, ich mach es selbst'", sagt sie lachend, kaufte sich ein Spinnrad, brachte sich das Spinnen selbst bei und gibt seit ein paar Jahren ihr Wissen an andere weiter. 

Vor sechs Jahren fing sie an, Videos von sich auf YouTube hochzuladen und startete mit chantimanou.de ihre eigene Internetseite. "Vor sechs Jahren interessierte sich dafür noch niemand", erzählt sie. Heute haben ihre Videos teilweise über 10 000 Klicks.


Nachhaltigkeit 2.0 Die neue Generation von Spinnern, Strickern, Nachhaltigen und Reparierern vernetzt sich. Sie haben Omas und Opas Tugenden nicht nur wiederentdeckt, sondern digitalisiert. Nachhaltigkeit 2.0. Es gibt eine weltweite Online-Gemeinschaft von Handspinnern und Strickern, erzählt Chantal. Die Seite Ravelry.com hat weltweit über fünf Millionen Mitglieder. Verena ist auf einer Tauschseite für Second-Hand-Klamotten angemeldet. Kleiderkreisel.de hat europaweit zwölf Millionen Mitglieder. Selbst alle Reparatur-Cafés in Deutschland, immerhin schon 600, sind auf der Seite reparaturinitiativen.org organisiert.


"Dadurch, dass wir alle miteinander verbunden sind, können weltweit Ideen ausgetauscht werden, man steht immer im Kontakt mit Gleichgesinnten, hat immer neue Anreize am Ball zu bleiben, da es so viele Möglichkeiten gibt, sich zu betätigen", meint Chantal-Manou Müller. Schon in den Achtzigern habe es die erste Spinnwelle gegeben. Die derzeitige, glaubt die Mutter zweier Kinder, werde wegen des Internets länger andauern.


Durch ihren Erfolg auf YouTube wird die Bonnerin inzwischen in ganz Deutschland gebucht. Ihr Kurs in einer Ergotherapie-Praxis in Fürstenzell (Landkreis Passau) ist voll. Die zwölf Teilnehmerinnen kommen aus der Umgebung. Sie alle haben verschiedene Beweggründe, aber dasselbe Ziel: nichts wegwerfen zu müssen. "Wir haben Schafe", erzählt Michaela. "Und früher haben wir die Schafswolle immer weggeschmissen, aber das hat uns furchtbar leidgetan." Inge ist Selbstversorgerin und will aus Brennesselfasern Kleidung machen. Irmgard hat sich sogar Angora-Kaninchen zugelegt: "Die wurden extra so gezüchtet, dass sie besonders lange schöne Haare haben, die man super spinnen kann."


Nachhaltigkeit ist Zeit für sich Menschen würden wieder mehr auf die Sachen achten, die sie ihrem Körper zuführen und an ihrem Körper tragen, hat Chantal festgestellt. Verena ist mit ihr einer Meinung. Man müsse nicht einmal viel Geld dafür ausgeben, meint sie: "Sind wir mal ehrlich: Was heute in Mode ist, hat es alles schon einmal gegeben. Klamotten kann man sich dann auch im Second-Hand-Shop kaufen. Wenn es nicht passt, muss man es einfach ein bisschen umnähen." Wer regionale Produkte aus biologischem Anbau haben wolle, könne diese auch am Markt direkt vom Bauern kaufen. 


Das sei oft auch nicht viel teurer als im Supermarkt, sagt Verena. Nachhaltig leben ist für Stefan Kaiser nur ein Teilaspekt der ganzen Bewegung. "Menschen wollen wieder viel selbstbestimmter leben. Dieser Trend ist stark im Kommen. Das kann in einem Reparatur-Café münden, oder man fängt an, selbst Gemüse anzupflanzen oder lässt eine Photovoltaikanlage installieren", sagt Kaiser überzeugt. "Man ist unabhängiger und freier. "Diese Botschaft will er unter die Leute bringen, auch mit dem Reparatur-Café. Sein Plan: "Man muss die Leute animieren, zu fragen, ob es Ersatzteile gibt. Am Anfang wird der Verkäufer noch lachen, aber wenn das jeden Tag passieren würde, müssen die Firmen irgendwann umdenken."


Viele Menschen, deren Leben zu stressig ist, kämen in ihre Spinnkurse, erzählt Müller. "Ärzte, Selbstständige oder berufstätige Mütter sind immer öfter dabei. Spinnen gibt ihnen Ruhe, ist Abwechslung vom Alltag, ein Ausgleich und Zeit für sich", sagt die junge Mutter. Und am Ende habe man etwas in der Hand, einen Lohn für die Arbeit, die man geleistet hat. So sieht das auch Studentin Verena: "Wenn man die Stricknadeln in der Hand hat, kann man nicht ans Telefon gehen. Ich muss niemandem antworten, ich bin nur für mich, höre Musik und am Ende habe ich etwas Nützliches geschaffen". 


Sie verschenkt die meisten ihrer Arbeiten. Ihre Freunde hätten alle personalisierte Handyhüllen, erzählt die 24-Jährige lachend, ihrer kleinen Schwester hat sie Schühchen für die Taufe gehäkelt. "Wenn man etwas Selbstgemachtes verschenkt, wissen meine Familie und meine Freunde, dass ich an sie gedacht habe, das geplant habe, mir Mühe gegeben und Zeit nur für sie genommen habe", erklärt sie. Wenn sich die Wege ihrer Freunde trennen würden, hätten sie auch noch in zehn Jahren eine Erinnerung an sie, sagt die 24-Jährige. Für ihre kleine Schwester wünscht Verena sich, dass sie die Schühchen in Ehren hält - und weitervererbt. Vielleicht wird sie eines Tages ihre Nichte bei ihrer Taufe tragen.

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