Ahmed Karim: (überlegt lange) Ja, da fällt mir eine Geschichte ein. An Silvester sollen syrische Jugendliche in Dortmund mit Feuerwerk eine Kirche angezündet haben. Diese Nachricht wurde von vielen Medien verbreitet. Später stellte sich heraus, dass es sich hierbei um Fake News gehandelt hat.
Warum haben Sie im ersten Moment die Nachricht als wahr empfunden?Normalerweise, wenn ich etwas lese, versuche ich immer zu recherchieren, ob diese Informationen auch wirklich so stimmen. Vor allem bei Berichten, die mich überraschen und beeindrucken. Gerade in Medienberichten über wissenschaftliche Studien werden oft Sensationsmeldungen verbreitet. In dem Fall schaue ich mir zuerst einmal die Originalstudie an.
Und wie war es bei der Nachricht aus Dortmund?Ich habe sie im ersten Moment als wahr empfunden, weil es schließlich immer schwarze Schafe gibt. Dennoch habe ich mich anfangs über diese Nachricht geärgert, weil ich viel mit syrischen Flüchtlingen arbeite und ich weiß, wie schwer es ihnen fällt, sich in Deutschland zu integrieren. Die Mehrheit der Zivilbevölkerung will sie auch integrieren. Nur wenn diese Flüchtlinge mit Tätern in einen Topf geworfen werden, ist es völlig kontraproduktiv.
Sie sind Gastprofessor an der Jacobs University und haben in dieser Woche einen Vortrag über Fake News gehalten. Wie definieren Sie diese?Man muss sie von einer unwahren Aussage unterscheiden. Wenn ich einem anderen eine Information übermittele, bei der ich selber weiß, dass sie nicht stimmt, handelt es sich um Fake News beziehungsweise eine Lüge. Ich gebe diese falsche Information bewusst weiter. Dabei hätte ich die Möglichkeit, die Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Welchen Einfluss haben Fake News auf unsere Einstellungen?Bleiben wir beim Beispiel aus Dortmund. Für Menschen, die rechtspopulistisch denken, sind solche Nachrichten natürlich Nahrung. Dieser Vorfall wird von ihnen in sozialen Netzwerken wie Facebook tausendfach geteilt, um rechtspopulistische Einstellungen und Hassparolen aufrechtzuerhalten. Dabei hätten sie sich wirklich die Mühe machen sollen, den Wahrheitsgehalt der Nachricht zu überprüfen, bevor man so etwas öffentlich teilt. Die Frage ist dann, ob diese Leute dann auch die wahren Inhalte vermittelt hätten, wenn die Nachricht ihrem Vorurteil widerspricht.
Was löst eine Lüge im Gehirn aus, die eine Meinung eines Menschen zu einem bestimmten Thema bestätigt und diese nicht widerspricht?Es werden unter anderem im Gehirn Botenstoffe ausgeschüttet, die Glücksgefühle auslösen. Wenn man dann aber eine widersprechende Meinung hört, löst das einen inneren Konflikt aus. Das vegetative Nervensystem kann übererregt werden, die Muskeln werden angespannt. Außerdem können Gehirnregionen, die für Aggressionen zuständig sind, aktiviert werden. Um das zu vermeiden, leben wir lieber mit einer Lüge weiter, als uns vielleicht von der Wahrheit überzeugen zu lassen.
Und wenn man sich auf andere Meinungen einlässt, was hat das für Folgen für das Gehirn?Dann trainiere ich mein Stirnareal. Das ist unter anderem dazu da, sich in andere hineinversetzen zu können und Empathie zu empfinden. Das Stirnareal ist auch stark involviert bei Lügen und moralischen Entscheidungen. Der Mensch ist das Lebewesen mit dem größten Stirnareal. Eine Lüge bringt häufig einen moralischen Konflikt mit sich. Sie führt zu mehr Aktivität im Stirnareal und geht mit Gewissensbissen einher - nicht bei allen. Psychopathen etwa können lügen, ohne diese Gewissensbisse zu haben. Bei ihnen nehmen die Aktivitäten im Stirnareal nicht zu. Auch sogenannte Lügendetektoren, die Nervosität beim Lügen messen, können Psychopathen schwer enttarnen.
Warum ist die Menschheit eigentlich so gutgläubig?Wir haben bestimmte Grundannahmen und Vorurteile. Wir wollen in der Regel unsere Vorurteile bestätigt sehen. Man liest gerne Medienberichte und Zeitungsartikel, die die eigene Meinung eher bestätigen als ihr zu widersprechen. Ebenso unterhält man sich lieber mit Menschen, die dieselbe Meinung teilen. Schneidet man einen Zeitungsartikel aus, ist das derjenige, der der eigenen Meinung eher entspricht als widerspricht. Dieses Verhalten ist zugleich selbstwertfördernd, wenn man an einer Illusion festhält. Oft ist eine Lüge einfach gemütlicher.
Warum lügt der Mensch?Um Strafe zu vermeiden. Zum Beispiel: Ein Kind hat Eier im Kühlschrank kaputt gemacht, gibt aber an, es sei es nicht gewesen. Das Kind entgeht der Strafe - mit einer Lüge. Außerdem ist die Lüge dazu da, sich einen Vorteil zu verschaffen, der einem gar nicht zusteht. Etwa bei einem Vorstellungsgespräch versichert der Bewerber, er beherrsche eine bestimmte Qualifikation. Dabei entspricht das überhaupt nicht der Wahrheit. Er lügt bewusst, um an die Stelle zu kommen. Oder auch in der Politik. Vor den Wahlen wird viel versprochen, obwohl die Kandidaten häufig wissen, dass sie diese Versprechen nicht umsetzen können. In der Absicht, viele Wählerstimmen zu generieren.
Sind Lügen generell negativ?Nicht immer. Manche Philosophen, darunter Kant oder Aristoteles, vertreten die Meinung, dass Lügen moralisch auch in Ordnung sein können. Dann, wenn man zwischen zwei Dilemmas wählen muss.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?Der Unternehmer Oskar Schindler während des Zweiten Weltkrieges, der gemeinsam mit seiner Frau zahlreiche bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung in Vernichtungslagern bewahrte, ist da zu nennen. Hätten die Nationalsozialisten damals bei ihm angeklopft und gefragt, ob er Juden bei sich versteckt hält, wäre es moralisch verwerflich gewesen, die Wahrheit zu sagen.
Ist es eine gefühlte Wahrnehmung, dass Fake News zugenommen haben?Die Frage ist doch, wie Nachrichten früher vermittelt wurden? Es gibt heutzutage deutlich mehr Medien. Somit gibt es auch mehr Möglichkeiten, Fake News zu verbreiten. Aber wenn wir Medien als eine Art veränderte Kommunikation ansehen, hat sich die Zahl der Fake News im Verhältnis nicht verändert. Damals hat man wahrscheinlich genauso gelogen.
Also sind absichtliche Falschmeldungen keine Modeerscheinung?Ich selber bin Halb-Ägypter. Wenn man sich altägyptische Hieroglyphen anschaut, erkennt man auch da Fake News. Der Pharao Ramses II. behauptete vor über 3000 Jahren, er sei Gott und habe Allmacht. Diese Fake News ließ er in zahlreichen Tempeln verbreiten. Uns erscheinen Dinge oft neu, so auch Fake News. Das hängt damit zusammen, dass wir im Vergleich zu früher mehr Zugänge zu Informationen haben. Dass der Mensch zu Fake News und zu Lügen neigt, war schon immer so.
Zur Person: Ahmed Karim ist Psychotherapeut und Gehirnforscher. Der 43-Jährige leitet den Masterstudiengang in Prävention und Gesundheitspsychologie an der SRH Fernhochschule in Riedlingen (Baden-Württemberg).