Meine Füße liegen auf 200 Millionen Jahre altem Stein, mein Kopf in einer Zukunft, in der alles 200 Millionen Mal besser ist. Geografisch betrachtet laufe ich - in undichten Turnschuhen - vom noch mittelfränkischen Solnhofen zum fast oberbayerischen Esslingen. Ein schmaler, schneevermatschter Panoramaweg entlang eines versteinerten Riffs aus dem Jurameer: der Zwölf Aposteln.
Zwischen den Felsen schwammen einst Raubfische, flog der Urvogel Archaeopteryx, tapsten Säbelzahntiger, und irgendwann tauchte ein oft an sich und der Welt zweifelnder Homo sapiens auf - ich.
Hier spaziere ich, seit ich denken kann. Ob nach einem Streit oder einer Trennung, der Scheidung meiner Eltern oder dem Steuerbescheid des Finanzamts. Das Abkommen zwischen meinen Füßen und mir: Ich gehe aus der Haustür, und dreißig Schritte später führt mich der erdige Pfad hoch über das Tal.
Wenn ich erzähle, ich käme aus einem Dorf in Bayern, ergehen sich die meisten in einer Morgenmilch-frisch-vom-Euter-mit-Alpenblick-Romantik. Die mit Wacholdersträuchern und Kiefern bewachsenen Hänge der Zwölf Apostel sind das Gegenteil dieser Kitschfantasie. Das Gras ist strohig golden, und die Landschaft wirkt mit all ihren Nadelbäumen eher mediterran.
Unter mir schlängelt sich die wintergrüne Altmühl durch Felder, die sich wie aus Schnee und Gras gewebte Teppiche über das Tal breiten. Von hier oben sehe ich den Rücken einer Krähe, die ihre Kreise zieht.
Hier zu spazieren hat etwas von einem Gebet: Die Natur um mich herum kenne ich genau, und ich bilde mir ein, sie kennt mich auch, mit ihr teilte ich meine geheimsten Wünsche und Pläne. Beim Spazieren geht es mir ums Blindwerden für meine Umgebung. Ich laufe an dem Baum vorbei, in den 1996 ein Junge aus dem Dorf ein Herz und die Initialen seiner Liebsten geritzt hat, und verliere mich in Tagträumen.
In Gedanken spaziere ich zu einem Sonntag am Meer. Ich stelle mir das flüchtende Ende des Universums vor und spaziere vom Winter in den Sommer und vom Sommer in einen Winter ohne Corona, ich spaziere in die bizepslosen Arme meiner Jugendliebe. Ich spaziere zu Freunden und meiner Familie und sage ihnen, was ich schon immer sagen wollte, und ich bin mir nie sicherer als beim Spazierengehen, dass es das Richtige ist. Ich kann nicht sagen, woher diese Sicherheit kommt. Beim Gehen werde ich klar, meine Welt lässt sich ordnen.
"Grüß Gott", sagt ein älteres Ehepaar und grüßt mit Trekkingstöcken. Harte Landung, zurück in Zentralbayern.
Am letzten Felsen hat man den besten Blick über das Tal. Die Sonne bricht aus den Wolken, und der Fluss schimmert, als würden goldene Pailletten auf ihn regnen. Ich setze mich auf den Stein - vielleicht Simon oder Petrus. Während des ersten Lockdowns kam ich fast jeden Tag hierher. Die Stadt war eng, die Straßen kniffen, ich zog vorübergehend ins Elternhaus am Waldrand. Und brauchte meine Spazierstrecke noch mehr als sonst. Die Pandemie erwischte mich in einer Übergangszeit, zwischen Ausbildung und Berufseinstieg. Den Zeitungen ging es schlecht, den Künstlern auch und meinem Konto erst recht. Ich war plötzlich eine Kachel in einem Online-Meeting. In geschlossenen Räumen wusste ich nicht mehr, wer ich bin und wie die Zukunft aussieht. Ich lief nach draußen, hoch zum Panoramaweg, und sah wieder klar.
Der Panoramaweg ist mein Geheimgang zu Gedanken, die mich zum Lächeln bringen. Wo sonst kommt man ins Weltall? In den Kopf der Person, die man liebt? Verschwimmt alles, Physik, Pandemie, Kontostand, Politik, Familie und Beziehung? Hier spazieren zu gehen hilft mir wissen, wer ich gern sein würde. Wer hätte gedacht, dass aus einem Reptil ein Vogel wird und dass einem Dinosaurier Federn wachsen? Nicht nur Viren können mutieren. Beim Spazieren glaube ich, es gibt sie: die Optionen.
Zurück gehe ich am Waldrand, damit es auch diesmal eine Runde ist. Vielleicht wegen der Idee Platons vom Denken als Kreis. Zu Hause wartet abendliches Fernsehprogramm. Aber ich lächle, als ich durchs Gartentor laufe, wie immer nach dem Spazieren. Und es hält, bis die Virologen zu reden anfangen. Mindestens.
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