Marlene Halser

freie Reporterin für Print, Audio und Video, Berlin

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Westjordanland: Zu Tränen geführt

"Achtet auf die Windrichtung, wenn die Tränengasgranaten kommen." Foto: Lihee Avidan

Reizgasnebel inklusive: Ein Hostel organisiert touristische Ausflüge zu den Anti-Israel-Protesten in einem palästinensischen Dorf. Stippvisite im Ausnahmezustand.


Oben auf der Dachterrasse ist der beschwerliche Weg nach Ramallah plötzlich vergessen. Die lange Anreise aus Jerusalem, der Kleinbus mit den Kopftuch tragenden Studentinnen, Müttern, quängelnden Kindern und Sonnenblumenkerne knackenden Jugendlichen. Vorbei an der Betonmauer, die Israel zum Schutz vor palästinensischen Selbstmordattentätern errichtet hat, vorbei am streng bewachten Checkpoint Kallandia, den Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag kontrollieren.

Inzwischen ist es Abend geworden, von der Sonne sind nur noch letzte Strahlen zu sehen. Auf dem Dach des "Hostel in Ramallah" sitzt Chris Alami mit einigen seiner Gäste auf gestapelten Industriepaletten im Kreis. Sie unterhalten sich leise, lachen. Dann blickt er auf. "Komm", sagt er, "setz dich zu uns", und holt mit dem Arm zu einer einladenden Geste aus. Der 39-jährige Palästinenser ist ein kleiner, feingliedriger Mann. Dunkle Bartflusen zerzausen sein rundes Gesicht, das glatte, schwarze Haar hat er mit Perlen geschmückt und lässig zum Dutt gebunden. Chris ist, wenn man so will, ein palästinensischer Hippie.

Zusammen mit seinem Bruder Bobo betreibt er das Hostel, die bislang einzige Absteige für Rucksacktouristen im Westjordanland. Es fühlt sich heimelig an hier, mehr WG als Hotel, was zum einen an den beiden Brüdern aus Ostjerusalem liegt, die jeden Gast willkommen heißen, als zöge er für immer ein. Zum anderen hat es damit zu tun, dass nur wenige Israelreisende die palästinensischen Autonomiegebiete besuchen. Wer das "Hostel in Ramallah" erreicht hat, fühlt sich als Teil einer verschworenen Gemeinschaft.

Die Abendluft auf dem Dach des vierstöckigen Hauses ist angenehm mild. Hinter dem Geländer blinken die Lichter der Stadt rot und gelb ins Dunkelblau des Himmels. Bei guter Sicht kann man von hier aus Israel erkennen, grünlich-braune Hügel, die steil zur Küste abfallen, und dahinter das Mittelmeer. Chris bietet der Runde seinen Drehtabak an. Dann fragt er: "Kommst du morgen mit auf unsere Politische Tour? Wir fahren jeden Freitag gemeinsam mit unseren Gästen nach Bil'in." Moment - Bil'in?

Das palästinensische Dorf, zwölf Kilometer westlich von Ramallah gelegen, hat es in der Region zu einiger Berühmtheit gebracht. Nur wenige Hundert Meter entfernt verläuft die Sperranlage, die Israel zum Schutz gegen Selbstmordattentäter zwischen sich und dem Westjordanland errichtet hat. Nahe Bil'in liegt der Zaun allerdings vier Kilometer östlich der sogenannten Grünen Linie - der Demarkationsgrenze von 1967 - und schneidet die Palästinenser damit von einem Stück Land ab, das eigentlich ihnen gehört.

Seit mehr als zehn Jahren ziehen sie deshalb jeden Freitag zum Zaun, um gegen die Sperranlage zu protestieren. Sie verlangen das Land zurück, auf dem einst ihre Olivenhaine standen. Woche für Woche kommt es dabei zu Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee. Der Protest ist beinahe zu einer Art Ritual geworden, das um seiner selbst willen stattfindet. Dazu gehört auch, dass die Soldaten jeden Freitag mit Tränengasgranaten auf die Demonstranten halten. Und Bil'in soll das Ziel eines Ausflugs für Touristen sein? Eine revolutionäre Kaffeefahrt, mit Fotogelegenheit und Souvenirs von der Front?


Touristen ist bisher nie etwas passiert

Natürlich sei das ein bisschen absurd, sagt Chris und muss selbst kurz lachen. "Aber gilt das nicht für die gesamte Situation hier im Nahen Osten?" Die Kontrollen, die Straßensperren, die jüdischen Siedlungen, die Israel ungeachtet aller Kritik immer weiter ins Westjordanland baut. "Die Tour ist eine Form des friedlichen Widerstands", sagt er und nimmt einen Schluck Taybeh – ein palästinensisches Bier, gebraut im Westjordanland, nach deutschem Reinheitsgebot. "Taste the Revolution", lautet der Werbeslogan.

Am nächsten Morgen übernimmt Bobo Alami im Hostel das Regiment. Der 31-Jährige ist ernster und stiller als sein Bruder, das dunkle, lockige Haar trägt er kurz. Bevor es losgeht nach Bil’in, will er die zwölf Teilnehmer auf das vorbereiten, was sie erwartet. Im Aufenthaltsraum lagert eine Sammlung tennisballgroßer schwarzer Plastikkugeln. "Das sind die Granaten, mit denen die Soldaten auf die Demonstranten schießen, um sie vom Zaun zu vertreiben", erklärt Bobo und nimmt eine der Kugeln aus dem Regal. Sie ist ringsum perforiert. Aus den Löchern rieselt körnige Asche. "Hier ist das Tränengas ausgeströmt."

Ob der Ausflug gefährlich sei, will jemand wissen. Nun, sagt Bobo, vor sechs Jahren sei ein Dorfbewohner aus Bil’in bei einer freitäglichen Demonstration von einer Tränengaspatrone getötet worden. Touristen aber sei bisher nie etwas passiert. "Schlimmstenfalls werdet ihr verhaftet." Wie jener Hostel-Gast, der vor ein paar Monaten ganz vorne im Demonstrationszug mitmarschierte und dann von israelischen Soldaten abgeführt wurde. Nach einer Nacht im Gefängnis durfte der Tourist zurück ins Hostel. "Er sah sehr glücklich aus", sagt Bobo, "ich glaube, er hatte sich so ein Erlebnis gewünscht."

Ist es das, was Menschen aus friedlicheren Regionen hier suchen? Den Kick, die krasse Erfahrung? "Natürlich spielt Adrenalin eine Rolle", sagt Ben, ein schmaler Australier, der früh aufgestanden ist, um mitzufahren. "Adrenalin ist immer gut." Aber das sei nicht die Hauptsache. Ihm gehe es um die politische Bildung. Seit einer guten Woche ist er in der Region unterwegs. Ein paar Tage Tel Aviv, Jerusalem, ein Abstecher nach Hebron, von Ramallah aus soll es auf die Golanhöhen weitergehen. "Ich will einfach die Situation hier verstehen", sagt Ben.

Dass der Anschauungsunterricht zulasten der Palästinenser ausfallen könnte, sorgt die Brüder Alami nicht. Dafür gleiche die Auseinandersetzung im Dorf zu sehr dem David-gegen-Goliath-Muster, sagt Bobo. "Habt ihr alle ein Tuch eingesteckt?", fragt er auf der Straße vor dem Hostel. "Gegen das Tränengas." Dann rattert der blaue VW-Bus los, hinaus aus Ramallah, vorbei an mehrstöckigen Wohnhäusern, die allesamt aus Melekeh errichtet sind, dem weißen Kalkstein, der für die Gegend typisch ist; vorbei auch an zahllosen Kränen, die in den wolkenlosen Himmel ragen. Ramallah, das wirtschaftliche Zentrum des Westjordanlandes, boomt – auch weil nicht absehbar ist, ob Jerusalem jemals Hauptstadt eines zukünftigen Palästinenserstaates werden wird.

Als der Bus eine gute halbe Stunde später in Bil’in hält, ist es ruhig im Dorf. Ein Schwarm Schwalben tschilpt am Himmel. Die goldene Kuppel der Moschee glänzt in der Sonne. Vor den flachen, weißen Bungalows, die die Hauptstraße säumen, wippen die Zweige leuchtender Bougainvilleen im Wind. Ein paar Teenager lehnen an einer Betonmauer am Straßenrand und beobachten, wie Bobo und die Touristen aus dem Bus klettern. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen.

Längst ziehen nicht mehr alle Dorfbewohner wöchentlich zum Zaun. "Viele haben Kinder", sagt Bobo. Sie verlassen freitags lieber das Dorf. "Kannst du mir zeigen, wie man das bindet?", fragt ein junger Mann aus England. Er hat eine Kufie mitgebracht, das traditionelle Kopftuch der Palästinenser mit den gewebten Rauten in schwarz und weiß. "Lieber nicht", sagt Bobo. "Wenn du das traditionell bindest, zielen die Soldaten nur extra auf dich."

Dann macht sich die Truppe auf den Weg in Richtung Sperranlage. Am Rande des Dorfes schamponieren drei junge Männer in einer offenen Garage gerade liebevoll einen tiefergelegten Wagen. Für uns interessieren sie sich nicht. Westlichen Besuch ist man in Bil’in gewohnt. Seit Jahren schon kommen immer wieder Unterstützer in den Ort, um an den Protesten teilzunehmen – neu ist nur, dass jetzt auch ein Hostel in Ramallah eine Tour organisiert.

Wo die asphaltierte Straße in einen Schotterweg mündet, der in eine Talsenke hinabführt, warten bereits etwa 20 Jungen und Männer aus dem Dorf. Einige lagern zum Schutz vor der Sonne im Schatten eines Olivenbaums. Andere haben Plakate mitgebracht. Sie zeigen das Gesicht eines Ministers der palästinensischen Autonomiebehörde, der eine Woche zuvor nach einer Konfrontation mit israelischen Soldaten an einem Herzinfarkt gestorben ist. Die Demonstranten wollen heute in seinem Namen protestieren und verteilen die Plakate mit dem schnauzbärtigen Konterfei. Daisy greift zu.


Das freitägliche Tagwerk ist verrichtet


Die 30-jährige Britin aus London findet es wichtig, "dass diese Demonstrationen weitergehen". Seit drei Monaten ist sie unterwegs in "Palästina", wie sie sagt. Sie hat gegen Kost und Logis auf einem Ökobauernhof mitgeholfen und sich in einem "Solidaritätscamp" im Jordantal israelischen Bulldozern entgegengestellt, um den Abriss palästinensischer Häuser zu verhindern. Natürlich sei es da ein bisschen komisch, jetzt an einer organisierten Tour teilzunehmen, um sich politisch zu engagieren. Aber was zähle, sei doch letztlich die Solidarität.

Die israelischen Soldaten sind auch schon da. Auf dem gegenüber liegenden staubigen Hügel haben sie hinter dem Sperrzaun Position bezogen. Mit bloßem Auge sind sie nur undeutlich als schwarze Figuren mit Helmen und Waffen zu erkennen. Sie bewachen Modi’in Ilit, mit etwa 50.000 Einwohnern ist die Stadt die größte israelische Siedlung im Westjordanland, überwiegend bewohnt von ultraorthodoxen Juden – und auf palästinensischem Land errichtet. So sehen es die Einwohner von Bil’in.

Bevor es losgeht, gibt Bobo noch ein paar praktische Tipps: "Achtet auf die Windrichtung, wenn die Tränengasgranaten kommen", "Rennt nicht, sonst atmet ihr nur noch mehr Reizgas ein", "Solltet ihr verhaftet werden, kümmern sich Anwälte darum, dass ihr wieder entlassen werdet". Und: "Ihr könnt das Geschehen auch sehr gut aus der Ferne beobachten."

Dann geht alles ganz schnell. Fix wird das Tuch um Mund und Nase gewickelt. Der kleine Zug setzt sich in Bewegung. "Free, free Palestine" und "One, two, three, Palestine will be free", ruft jemand durch ein Megafon. Daisy und einige andere Touristen brüllen mit. Kaum haben sie die Talsenke erreicht, fallen die ersten Schüsse, obwohl die Gruppe noch gut 20 Meter von den Soldaten entfernt ist. Ein scharfes Peng nach dem anderen hallt durch das Tal. Die Geschosse wirbeln in hohem Bogen durch die Luft und springen wie Silvesterkracher über den Lehmboden, solange das Gas mit Druck entweicht.

Schon nach wenigen Sekunden ist die Talsenke so vernebelt, dass man kaum noch etwas sieht. Der schweflige Reizgasgeruch wabert heran, erst ganz leicht, dann schnell immer intensiver. Er brennt in Augen und Nase, ätzt auf der Haut und nimmt die Luft zum Atmen. Halb blind stolpern die Demonstranten zwischen den Olivenbäumen hindurch und suchen Deckung hinter weißen Kalksteinmäuerchen. Husten und Würgen dringt aus dem Nebel. Am Wegesrand ist ein struppiger Esel zwischen die Fronten geraten und legt sich verstört ins Gras.

Als die Soldaten eine Feuerpause einlegen und sich die Nebelschwaden lichten, ist die Gruppe in alle Richtungen zerstreut. Etwa die Hälfte hat es fast bis zur Sperranlage geschafft. Die Männer aus dem Dorf halten das Tränengas offenbar besser aus. Ungerührt haben einige von ihnen vor den langsam näher rückenden Soldaten Stellung bezogen und halten ihre Transparente in die Höhe. Was sie den Soldaten entgegenbrüllen, ist aus der Ferne nicht zu verstehen. Die Touristen kämpfen sich unterdessen langsam zurück zum Ausgangspunkt am Rand des Dorfes.

"Wir waren fast ganz vorne", sagt Daisy mit geröteten Augen und sichtlich aufgeregt. "Einer der Soldaten hat direkt auf uns gezielt." Als sich ein neuer Protestzug formiert, marschiert sie noch einmal ein kurzes Stück mit. Auch ein paar vermummte Jugendliche aus dem Dorf nähern sich jetzt mit langen Steinschleudern dem Geschehen. Etwas abseits der friedlichen Demonstranten pirschen sie durch den Olivenhain, nehmen Steine auf und schleudern sie in Richtung der Soldaten, deren Tränengassalven sofort die Richtung ändern. Ben, der junger Australier, nutzt die Verschnaufpause für ein Erinnerungsfoto. Stolz hält er eine leere Tränengaspatrone vor seine Handykamera. Auch die anderen Touristen machen Bilder. Vermummt vor Nebelschwaden – ein gutes Motiv.

Nach gut anderthalb Stunden ist der Spuk vorbei. Soldaten und Demonstranten sind abgezogen. Das freitägliche Tagwerk ist verrichtet. Bobo hat die Touristengruppe im Dorf versammelt. Mit verquollenen Augen lauscht Daisy dem Bericht eines jungen Mannes, der eine hühnereigroße Beule an der Stirn hat. Ein Tränengasgeschoss hat ihn am Kopf getroffen. Kurz darauf wird er ins Krankenhaus gefahren. Ben schickt unterdessen das erste Selfie via Snapchat an seine Freunde daheim.






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