Ein neues Programm erschüttert unseren Glauben an das Internet. Es nimmt uns das Liken, Kommentieren und Followen ab. Kommen die sozialen Netzwerke in Zukunft ohne uns aus?
Von Slavoj Zizek stammt der Witz darüber, wie der Sex der Zukunft aussieht: Ein Paar trifft sich, beide holen ihre Sexspielzeuge heraus und legen diese auf den Tisch. Dann haben die Geräte Sex, während sich das Paar erleichtert zurücklehnen kann.
Das Objekt, das selbst genießt und uns von der Pflicht entbindet, Spaß zu haben, kennen wir schon vom eingespielten Konservengelächter in amerikanischen Sitcoms. Jetzt aber treibt ein neues Programm, das den Nutzern des Fotonetzwerks Instagram das Liken und Followen abnimmt, dieses Phänomen auf die Spitze.
Es ist nur der letzte Schlag in einer Reihe narzisstischer Kränkungen, die wir Internetnutzer erlebt haben. Erstmals, als die Erkenntnis durchsickerte, dass Facebooks Algorithmen die Welt für uns vorsortieren und vorzensieren, indem sie sich merken, welche Artikel wir anklicken und auf welchen Bildern wir eine Sekunde länger verharren - um uns dann mit immer ähnlicher werdenden Informationen zu füttern. Ernüchtert stellten wir fest, die ganze Zeit nur in einen Spiegel unseres Selbst geblickt zu haben, nicht in die Welt da draußen.
Eine zweite Kränkung geschah, als wir begriffen, dass nicht hinter allen Accounts echte Menschen sitzen. Forscher an der Columbia University fanden kürzlich heraus, dass 15 Prozent der Tweets zum Brexit von Bots, also automatisierten Nutzerkonten, stammen. Welcher Account Fake ist, lässt sich mit normalem Auge nicht erkennen.
Noch härter trifft uns die dritte und jüngste Kränkung. Vielleicht, weil sie mehr über unsere niedersten Instinkte offenbart, als uns lieb ist. Denn sie bedroht den naiven Kinderglauben an die Likes der ehemaligen Klassenkameradin, das Thumbs-Up der Kollegin und die Follow-Anfrage des One-Night-Stands.
Denn die Webseite Instagress übernimmt für ihre echten, menschlichen Nutzer das Liken, Kommentieren und Folgen. Wer davon Gebrauch macht, kann unter verschiedenen Einstellungen wählen. Man entscheidet, ob der Mechanismus nur Fotos mit bestimmten Hashtags liket, etwa alles, was mit #instabooks und #lovevegan gekennzeichnet ist, oder ob er zum Beispiel jeden auf dem Markusplatz in Venedig aufgenommenen Schnappschuss pauschal mit einem „awesome! <3" versieht. Weiterhin kann man markieren, dass Instagress nur Leuten folgen soll, denen die eigenen Freunde sowieso schon folgen, oder umgekehrt.
Auf keinen Fall vergessen sollte man das Programmieren der Zeiträume. Wer zum Beispiel dafür bekannt ist, jeden Morgen um 7 Uhr eine Stunde zum Yoga zu gehen, macht sich unglaubwürdig, wenn er zu genau dieser Stunde zwanzig Likes verteilt. Auch verschiedene Zeitzonen müssen berücksichtigt werden. Alles soll ja so authentisch und menschengemacht wie nur möglich erscheinen.
Dies alles dient einzig und allein dem Zweck, Follower zu gewinnen. Wer fünf Likes von derselben Person erhält, fühlt sich höchstwahrscheinlich geehrt und folgt dieser Person dann zum Dank. Außerdem herrscht in den Social Media oft das Gesetz der Höflichkeit: Wer mir folgt, dem folge ich zurück. Das Programm folgt also einer beliebigen Zahl von Menschen und wartet, bis diese das Folgen erwidern. Tun sie das nicht, wird automatisch wieder entfolgt.
Für Radikale hält Instagress sogar die Möglichkeit parat, gerade den treuesten Followern die Gefolgschaft zu kündigen - in der Hoffnung, dass diese nichts davon mitkriegen. Denn am beeindruckendsten sieht derjenige Account aus, bei dem sich das Follower-Following-Verhältnis stark zur Seite der Follower neigt. Empfohlen wird für den Anfang der langsame Modus, in dem pro Tag 480 Likes, 144 Kommentare, 336 Follows und 240 Unfollows unternommen werden. Im schnellen Modus verdoppeln sich die Zahlen.
Instagress wird besonders von Marketingfirmen genutzt, aber auch von Einzelpersonen, deren Berufsfeld eine sichtbare Social-Media-Performance verlangt - oder die ganz einfach der Ehrgeiz gegenseitiger Follower-Überbietung gepackt hat.
Wer sich also wundert, was der „Gigantisch!"-Kommentar des selbstdarstellerischen Muskelprotzes unter dem Foto eines auf der Straße gefundenen Babyschnullers zu suchen hat, sollte einen Blick auf die Followerzahl des Kommentators werfen. 1020 Follower, obwohl er selbst nur 34 Leuten folgt? Klarer Fall von Instagress.
Von begeisterten Nutzern kann man auf der Website lesen: „Früher habe ich jeden Tag Stunden damit verbracht, zu liken, zu followen und zu kommentieren. Jetzt macht Instagress das alles für mich!" Oder: „Mein Newsfeed sprudelt über an Dankesbekundungen von Leuten, deren Fotos ich geliket habe. Was das Tollste daran ist: Ich musste sie nicht einmal selbst liken."
Wenn also der Erzfeind plötzlich mitten in der Nacht zehn unserer Bilder liket, dann ist das nicht unbedingt als Friedensangebot gemeint. Allerdings haben wir die Bedeutung von Likes ja auch früher überschätzt. Die Annahme, das Liken würde durch Instagress ad absurdum geführt, täuscht: Im Gegenteil, es kommt seiner wahren Funktion näher. Denn natürlich verweist es auf keinen tieferen Sinn, sondern war immer schon Zweck an sich. Etwas, das uns beglückt, auch wenn wir selbst nicht daran glauben, dass auch nur irgendjemandem irgendetwas an uns gefällt.
Das zu realisieren tut erst einmal weh. So wie der Mensch einst durch Kopernikus, Darwin und Freud aus seiner erhabenen Position im Weltganzen vertrieben wurde, so wird nun das Internet von seinem Sockel gestoßen, auf dem es als Heilsversprechen einer neuen, demokratischeren, besseren Wirklichkeit gestanden hatte.
Nur: Leiden muss darunter am Ende doch wieder der Nutzer. Oder aber er lehnt sich zurück und schaut erleichtert zu, wie das Handy von ganz alleine spricht, lacht und stöhnt.
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