Wenn Schiffe mehr als 150 Jahre lang auf dem Meeresboden liegen, darf man nicht mehr auf allzu viele Schätze hoffen. Vielleicht ein paar Münzen, verrostete Sextanten, verrottete Lederwaren. Viel mehr dürfte sich Philippe Rouja an jenem Juni-Morgen des Jahres 2011 nicht erträumt haben, als er sich in seinem Boot und mit Taucherausrüstung auf den Weg zum Wrack der „Mary Celestia" machte. In der Nacht war ein Sturm über die Gewässer vor Bermuda gezogen. Rouja, ein Ethnologe, der als Wissenschaftler für den Naturschutz der Insel arbeitet, schaute immer dann nach seinen Wracks, wenn der Sturm vorbei war. Die Unwetter wälzten die Wellen, und die Wellen wühlten die Sandmassen durch. Manchmal legten solche Stürme dann etwas frei, was er zuvor noch nicht gesehen hatte. Und weil vor der Inselgruppe im Atlantik mehr als 200 untergegangene Schiffe liegen, findet Rouja, der „Wächter der Schiffswracks", vor Bermuda immer wieder Kleinigkeiten.
Als er zur „Mary Celestia" hinabtauchte, einem Schiff aus den Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs, bemerkte er schon an der Farbe des Sandes rund um den Bug, dass sich etwas verändert hatte. „Der Sand war sehr dunkel. Er war lange nicht bewegt worden", erinnert sich Rouja. Auch hätte er nicht sagen können, wann der Bug das letzte Mal frei zugänglich gewesen wäre. Als er diesen Teil des Schiffs näher untersuchte, entdeckte er im dunklen Sand eine Flasche. Sie war glatt. Sie enthielt eine dunkle Flüssigkeit. Und der Korken war intakt.
Philippe Rouja fuhr zurück an Land und telefonierte mit James Delgado, einem der führenden Meeresarchäologen der Vereinigten Staaten. „Die Amerikaner sind an allem interessiert, was mit dem Bürgerkrieg zu tun hat", sagt Rouja. Er war sich sicher, dass sie nicht viel Zeit für ihr gemeinsames Projekt hätten. Der nächste Sturm könnte alles wieder zunichte machen. Doch Delgado war interessiert, kam mit seiner Crew und brachte auch gleich ein Filmteam mit, um die Bergung zu dokumentieren.
„Sie sank innerhalb von sechs bis acht Minuten"Gemeinsam fuhren die Wissenschaftler zum Wrack, das rund 800 Meter vor der Küste liegt. Sie fanden, was sie suchten. Einige verkorkte Flaschen Wein tauchten im dunklen Sand des Bugs auf. Außerdem die Überbleibsel einer Weinkiste. Und dann waren da noch, tief im Bug versteckt, Frauenschuhe, Schuhflickzeug, Damenbürsten und eine Parfümflasche. „Das war keine normale Schmuggelware", sagt Rouja. „Das sah alles so aus, als wäre es sorgfältig für jemanden zusammengestellt worden." Und er ahnte auch für wen. Als die „Mary Celestia" noch nicht als Wrack vor Bermuda lag, fuhr der 207 Tonnen schwere Seitenraddampfer für die Firma „Crenshaw" von England nach Amerika. Er war in Liverpool zu Wasser gelassen worden und versorgte als Blockade-Brecher die Konföderierten im amerikanischen Bürgerkrieg.
Auf solchen Schiffen wurde zunächst allerlei Schmuggelgut aus England für die Südstaaten transportiert. Als sich der Krieg und die Versorgungslage zuspitzten, sollten diese Schiffe nur noch Waffen, Lebensmittel und Militärgüter transportieren. Luxusgüter waren nicht mehr erlaubt. Die „Mary Celestia" hatte schon einige Angriffe durch die Schiffe der Nordstaaten überlebt. Doch am 6. September 1864 verließ sie ihr Glück. Nur 800 Meter von der Küste Bermudas entfernt nahm die Mannschaft den falschen Kurs. In seinem Buch „The Blockade- Runners" beschreibt Dave Horner, selbst ein passionierter Taucher, das Ereignis so: „Als er die Gefahr sah, ordnete der erste Maat an, das Ruder fest auf die andere Seite zu schlagen. Doch es war zu spät. Sein Befehl konnte gerade noch befolgt werden, als die Mary Celeste auf das Riff lief. Sie sank innerhalb von sechs bis acht Minuten."
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