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"Unsägliche Form der Geschichtspolitik"

(Quelle: dpa)

Der Evangelische Kirchentag steht dieses Jahr ganz unter dem Zeichen des 500-jährigen Reformationsjubiläums. Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann findet die Aufmerksamkeit für die Reformation zwar positiv, sieht aber nur ein "flüchtiges Interesse". Viele Probleme der Kirche blieben zudem unausgesprochen.


heute.de: Herr Kaufmann, finden Sie die Aufmerksamkeit, die die Reformation zurzeit in der allgemeinen deutschen Öffentlichkeit bekommt, gut?


Thomas Kaufmann: Zunächst ist es ein großes Glück, wenn das eigene historische Arbeitsgebiet, das mich seit drei Jahrzehnten fesselt, die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit zu finden scheint. Allerdings ist es ernüchternd, dass dieses "Interesse" vielfach so flüchtig ist wie der Großteil der Medien unserer Zivilisation, und viele Äußerungen eher an Werbeslogans erinnern als an substantielle Information. Schließlich ist deprimierend, dass von Seiten führender Vertreter der Kirchen und der Politik das Reformationsjubiläum zum Anlass genommen wird, sich selbst in Szene zu setzen und eigene Lieblingsgedanken durch den Bezug auf das 16. Jahrhundert hochzustilisieren und gleichsam zu legitimieren.

heute.de: Was meinen Sie da zum Beispiel?


Kaufmann: Zum Beispiel Aussagen wie "Reformation heißt, die Welt hinterfragen" oder "Reformation bedeutet, sich kritisch engagieren!". Das ist eine unsägliche Form der Geschichtspolitik. Ich finde sie deprimierend, ziemlich erbärmlich und einer demokratischen und "aufgeklärten" Zivilisation unwürdig.


heute.de: Was ist an den Aussagen so falsch?


Kaufmann: Sie sind völlig unspezifisch und austauschbar. Ich könnte auch sagen "Erwachsenwerden bedeutet, die Welt zu hinterfragen" oder "Ein mündiger Staatsbürger zu sein, bedeutet, sich kritisch zu engagieren". Misslungen ist also die Auflösung der Reformation in eine unstrittig akzeptierte, gesellschaftlich affirmierte Tugendhaltung. Aber ein Christentum, das nur das reproduziert, was der Mainstream denkt und empfindet, mag gesellschaftspolitisch opportun sein; es ist aber theologisch belanglos und religiös steril und insofern ohne weitere Relevanz.


heute.de: Warum ist das Reformationsjahr so wichtig für Deutschland?


Kaufmann: Seitens beider Kirchen sehe ich in dem Reformationsjubiläum einen Versuch, noch einmal die ganz große, politische Öffentlichkeit zu erreichen und den eigenen Anspruch auf gesellschaftliche Geltung zu untermauern. Dies macht man heute besser "ökumenisch". Nicht weil man sich theologisch besser versteht als früher, sondern unter Aussparung der tiefgreifenden Differenzen, und weil die Repräsentanten des Staates eher ein unpolemisches Christentum als "Band" der Gesellschaft schätzen. Die Probleme der evangelischen Kirche anzusprechen - das traut sich keiner. Ich bin von Seiten hoher Repräsentanten jedenfalls als meckernder Spielverderber diskreditiert worden.


heute.de: Was für Probleme meinen Sie?


Kaufmann: Dass die Mitgliedschaftsbeziehung zur Kirche über vom Staat eingezogene Kirchensteuern läuft, dass die Institution Kirche sich vor allem als politisch-moralische Agentur präsentiert, weil sie mit ihren Kernthemen Sünde und Erlösung nicht anzukommen meint, dass wir massive Nachwuchsprobleme bekommen und dass die Gemeindeebene zugunsten übergemeindlicher Strukturen zurückgefahren wurde - das sind einige der Probleme.


heute.de: Was halten Sie persönlich von dem Jubiläumsjahr, was ist bisher gelungen, was misslungen?


Kaufmann: Es gibt einige gute Ausstellungen und einige gelungene Bücher, die es ohne das Jubiläum nicht gäbe. Auch einige dringend erforderliche Restaurationsarbeiten an wichtigen "Überresten" des 16. Jahrhunderts wären sonst niemals finanzierbar gewesen. Das ist erfreulich. Völlig misslungen ist es, das 16. Jahrhundert als eine fremde Welt, die gleichwohl "unsere" Vorgeschichte ist, zu thematisieren.


heute.de: Stattdessen werden "schwachsinnige Gegenwartsbezüge" hergestellt, das sagten Sie mal in einem Interview. Welche sind das zum Beispiel?


Kaufmann: Damit meine ich Behauptungen wie die einer Erfindung der Menschenwürde durch die Reformation; auch die Vorstellung, die Reformation habe die Demokratie befördert oder die These von den reformationszeitlichen Wurzeln des Kapitalismus. Diesen Thesen ist gemeinsam, dass sie Gegenwartsgeltung durch Geschichtskonstruktion zu erlangen versuchen. Doch unsere "moderne" Welt hat viele Mütter und Väter; sie ist das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Transformationsprozesses.


heute.de: Was erhoffen Sie sich noch von dem Gedenkjahr?


Kaufmann: Dass wenigstens noch gelingen möge, den außerordentlichen Feiertag - den Tag des Thesenschlags am 31. Oktober 1517 - in seiner Merkwürdigkeit zu diskutieren und ihn zum Anlass zu nehmen, um über die Bedingungen und Möglichkeiten eines differenzierten Verhältnisses zu den Religionen in unserem Land, jenseits skandalisierender Symboldebatten über Burka und Beschneidung, zu sprechen. Und vielleicht auch, dass "wir" das Reformationsjubiläum nutzen, um zu verstehen, woher "wir" kommen und unter welchen Bedingungen Toleranz möglich wurde und bleiben kann.


heute.de: Welchen Umgang mit der Reformation wünschen Sie sich für die Zukunft?


Kaufmann: Es wäre wünschenswert, dass der "Atem" der historischen Erinnerung einer Gesellschaft weiter zurückreicht als in die sogenannte Zeitgeschichte. Die Reformation bietet einen Blick in eine fremde Welt, die auch einmal Deutschland war. Mit dieser haben wir noch viel gemein, nicht zuletzt die Sprache. Durch das Verständnis des 16. Jahrhunderts entdecken wir auch ein Europa, das noch nicht von den Nationalstaaten geprägt war; als Perspektive unserer Zukunft könnte das hilfreich sein. Es wäre auch gut und schön, wenn jenseits der Fun- und Eventkultur unserer Tage die großen Themen des Menschseins, die auch die Reformatoren umtrieben, Gehör und Resonanz fänden, nicht um ihre Antworten einfach zu übernehmen, aber doch um ihre Fragen zu bedenken.


Das Interview führt Maria Ugoljew.

(VÖ 25.5.2017, www.heute.de)

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