Diktatur-Vergleiche, völkischer Kurs: Die AfD tritt im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt ungehemmt radikal auf. Das fällt auf fruchtbaren Boden. Eine Spurensuche.
Erschienen am 05.06.2021
Der alte Mann hat sich einen Campingstuhl auf den Marktplatz gestellt, in der Hand hält er eine Waffel mit zwei Kugeln Eis. Gleich geht hier in der Kleinstadt Aken in Sachsen-Anhalt eine AfD-Kundgebung los. „Ich weiß nicht, ob die AfD in der Lage ist, Regierungsarbeit zu übernehmen", sagt er. „Aber ein Mitspracherecht sollte sie schon haben."
Der Mann ist Rentner, hat seine Frau verloren. Was will er denn bei der AfD? „Ich wünsche mir mehr Ruhe und Frieden“, sagt er. Nachts fühle er sich in Städten wie Halle und Leipzig nicht mehr sicher. „Zu viel Demokratie birgt auch den Keim von Anarchie“, sagt er. Die Justiz sei zu liberal. „Es muss auch durchgegriffen werden.“
Vorne auf dem Pritschenwagen tritt in weißem Hemd Gordon Köhler ans Mikrofon und beginnt seine Rede. Er ist der örtliche AfD-Direktkandidat, 34 Jahre alt. „Wir können stärkste Kraft werden“, ruft er. Köhler schimpft auf die „Eliten“, auf den Verfassungsschutz. Auf die steigenden Preise, für Strom, für Sprit. Auf die Mehrwertsteuer für Kinderprodukte von 19 Prozent. „Da sieht man mal, für wen in diesem Land Politik gemacht wird“, ruft er. „Für Kinder schon mal nicht!“
Er wolle im Landtag für Normalität kämpfen. Dafür, dass Kinder in Sicherheit aufwachsen könnten, ihre Meinung sagen könnten. „Das hört sich alles verdammt normal an, aber das ist es in Deutschland in der heutigen Zeit nicht mehr!“
Normalität – das ist das große, diffuse Versprechen der AfD, in Sachsen-Anhalt und bundesweit. Normal, das will aber auch sie selbst sein. Dabei steht die AfD beim Verfassungsschutz unter Rechtsextremismusverdacht, der Landesverband Sachsen-Anhalt ist einer der radikalsten bundesweit. Erst kürzlich wieder wiesen MDR-Journalisten dem Landesverband Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen nach. Im Landtag fiel der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD unter anderem damit auf, dass er die Corona-Pandemie als einen „Schwindel“ bezeichnete.
Und doch dürfte die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt wieder zweitstärkste Kraft werden. Trotz Pandemie tourt sie durchs Land, baut ihre Bühnen auf den Marktplätzen auf. In den meisten Umfragen liegt sie bei 23 oder 24 Prozent.
Eine Erhebung des Instituts Insa sah sie sogar vor der CDU. Die AfD hat also realistische Chancen, ihren Erfolg von 2016 in Sachsen-Anhalt zu wiederholen. Sollte es wider Erwarten für Platz eins reichen, dann würde das ein politisches Beben auslösen, das bis nach Berlin zu spüren ist. Was treibt Menschen in Sachsen-Anhalt dazu, diese Partei zu wählen? (...)
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