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Warum häusliche Gewalt gerade zunimmt

Weil in Zeiten der Isolation Betroffene von häuslicher Gewalt stärker gefährdet sind, sollten Nachbarn genauer hinhören. Nicht die Täter werden mehr, aber die Taten häufen sich, sagt Frauenberaterin Sabine Böhm.


Wegen der Corona-Krise bleiben gerade viele zu Hause. Arbeiten zu Hause, machen Sport zu Hause, kaufen von zu Hause aus ein, treffen Freunde nur noch virtuell, von zu Hause aus natürlich. Das ganze Leben beschränkt sich auf die eigenen vier Wände - wer in einer WG lebt, hat meist tatsächlich nicht mehr als das. Social Distancing und ein gewisses Maß an Selbst-Isolation sind wichtig. Wichtig ist aber auch, das nähere Umfeld nicht völlig aus dem Blick zu verlieren. Und damit diejenigen, für die diese vier Wände vielleicht gerade zum Käfig oder sogar zur Bedrohung werden: Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Die der Person kaum mehr entfliehen können, die sie täglich verletzt - sei es psychisch oder körperlich.


Bevor sich eine junge Frau in der chinesischen Provinz Shanxi aus dem Fenster eines Hochhauses stürzt, hinterlässt sie diese Nachricht: "Ich habe immer gedacht, häusliche Gewalt ist weit weg von mir. Heute durchlebe ich einen Albtraum." Ihr Mann habe ihr Gewalt angetan, bestätigt die Polizei gegenüber chinesischen Medien. Dabei schien ihre Ehe intakt gewesen zu sein, sagt die Schwester der Toten. Wegen Corona hätten die beiden kaum mehr Kontakt gehabt.


Dass sich so eine Partnerschaft unter besonderen Umständen verändern kann, davor warnen gerade viele Experten auf der ganzen Welt. Es habe eine "erschreckende" Zunahme der häuslichen Gewalt gegeben, sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor Kurzem in einer Videobotschaft: „Für viele Frauen und Mädchen ist die Bedrohung dort am größten, wo sie am sichersten sein sollten. In ihrem eigenen Zuhause". Er richtete sich direkt an die Regierungen und appellierte, Maßnahmen gegen die Gewalt zu ergreifen. Auch Berichte aus Europa zeigen: Kinder und Frauen sind zu Hause gerade stärker gefährdet als vor Ausbruch der Pandemie.


Wichtig sei aber zu unterscheiden, sagt Arno Helfrich, Leiter des Kommissariats für Prävention und Opferschutz der Polizei München: Die Gewalt komme nicht aus dem Nichts. "Da, wo häusliche Gewalt schon mal Thema war, befürchten wir, dass sie häufiger wird, je länger diese Beschränkungen dauern". Ob sie genauso stark zunehme wie in China, sei jedoch schwer zu sagen. "Da waren die Beschränkungen viel restriktiver, Leute durften Wohnung und Haus gar nicht verlassen".


Was Helfrich sagen will: Es werden nicht plötzlich mehr Männer Täter, weil sie nicht mehr ins Fitnessstudio oder in die Kneipe können. Täter waren vorher schon Täter, blieben aber möglicherweise unbemerkt. Das bestätigt auch die Soziologin Sabine Böhm, die seit 13 Jahren gewaltbetroffene Frauen und Mädchen berät. "Es kann sein, dass die Anzeichen von häuslicher Gewalt vor den Ausgangsbeschränkungen nicht so wahrgenommen wurden, einfach weil auch andere, viele positive Erfahrungen mit dem Partner bei räumlicher Trennung gemacht wurden."

Böhm betont: Gewalt fängt nicht beim Faustschlag an, es gehe vor allem um Kontrolle, um systematischen Terror, den der Täter oder die Täterin ausüben. Und der müsse vorher schon ansatzweise da gewesen sein, sagt Böhm.

Schon vor Corona waren die Zahlen auch in Deutschland erschreckend hoch: Statistisch gesehen stirbt etwa jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau durch häusliche Gewalt. Laut Frauenrechtsaktivistin Dr. Kristina Wolff kamen 2019 durch häusliche Gewalt 177 Mädchen und Frauen 2019 zu Tode. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch höher. Was sich durch Corona und die Ausgangsbeschränkungen verschärft: "Dass die Gewalttätigkeit der Täter bei häuslicher Gewalt massiver wird. Und die Intervalle zwischen der Gewalt kürzer. Einfach weil diese räumliche Beschränkung natürlich die Kontrolle über die Partnerin vergrößert. Man ist immer zuhause und man kann immer, wenn einem sozusagen danach ist, körperliche Gewalt ausüben." Aber auch Demütigung und Erniedrigung nehme so zu. Und: Die Leute, die sowieso von häuslicher Gewalt betroffen sind, fänden schwerer Hilfe. Familie oder Kontakte an der Arbeit, Freunde fallen weg, erklärt Frauenberaterin Böhm. Oder werden zusätzlich entzogen: "Durch Worte wie: Ich will nicht, dass du so viel mit deinen Eltern telefonierst. Hör mir zu".

Wichtig ist laut Böhm deswegen jetzt gerade: Aufmerksam sein und proaktiv auf die Freundin, Bekannte, Nachbarin zugehen. Hilfe anbieten. Klar machen: Ich bin für dich da. Es gibt einen Ausweg. "Diese Botschaften können im Zweifel lebenswichtig sein", sagt Böhm, nicht nur in der Nachbarschaft oder unter Freunden, auch beim Einkaufen sei es wichtig, die Augen offen zu halten. Deswegen fordern auch gerade Politiker*innen wie die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws, dass eine Kampagne des Bunds die Frauen überall in Deutschland erreicht. Auch direkt vor Ort mit Plakaten oder Hinweisen beim Einkaufen. Die seien unter Umständen leichter zugänglich als Informationen im Internet.

"Wenn der Kontakt nach außen ganz wegbricht, man auch keine Kollegen und Kolleginnen hat, kann es schon sehr leicht sein, dass man in eine psychische Situation gerät, in der man denkt: Das ist hier ja irgendwie die Hölle und ich komm da nicht mehr raus." Wie im Fall der jungen Chinesin.


"Das was die Männer tun, oder die Täter von häuslicher Gewalt, das ist ja eine Entscheidung, die sie treffen", sagt Beraterin Böhm. "Das ist ja nicht so wie diese Seuche, die uns trifft und wir nicht entscheiden können, ob wir uns jetzt anstecken oder nicht." Es sei wichtig, die Verantwortlichen auf die Taten anzusprechen und zu sagen: Männer, wenn ihr sehr unter Druck geratet, gibt es Möglichkeiten auch für euch, sich Unterstützung zu holen. "Es gibt Männerberatungsstellen, es gibt die Möglichkeit wegzugehen, bevor ich zuschlage", sagt Sabine Böhm.


Weder Polizei noch Beratungen vermerken gerade schon einen Anstieg der Hilferufe. Beraterin Böhm begründet das so: "Wir erwarten, dass nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen sehr viel mehr Anfragen über das ganze Jahr verteilt kommen werden, weil die Frauen ein unterschiedliches Tempo haben, zu erkennen oder zu realisieren, wie sehr ihnen das zugesetzt hat, was in dieser Situation im Rahmen von häuslicher Gewalt passiert ist".


Klar sei die aktuelle Situation nicht optimal, um direkt zu helfen, sagt Arno Helfrich vom Polizeipräsidium München: "Es ist schwierig, sich Hilfe zu holen. Aber wir stehen zur Verfügung". Die Polizei kann vor Ort Platzverweise erteilen, den Täter oder die Täterin mitnehmen. Und auch wenn Frauenhäuser zum Teil geschlossen sind, keine neuen Frauen aufgenommen werden können, gibt es Möglichkeiten, es können Hotels angemietet werden. Dennoch wird die Krisenkommunikation der Regierung gerade vor allem kritisiert, was soziale und psychische Folgen des Lockdowns angeht.

Sendung: PULS am 08.04.2020 - ab 15.00 Uhr  Zum Original