Anfang Juni schießt ein Neonazi dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in den Kopf. Direkt vor seinem Haus. Ein politischer Mord. Sechs Autominuten von der Haustür meiner Eltern entfernt.
Vergangenes Wochenende wählten Ortsbeiräte aus SPD, CDU und FDP den NPD-Funktionär und bekannten Neonazi Stefan Jagsch im hessischen Altenstadt einstimmig zum Ortsvorsteher - weil er sich "gut mit Computern auskennt" und sich "absolut kollegial und ruhig" verhalte. Sein Name taucht mehrfach im hessischen Verfassungsschutzbericht auf.
Auf WhatsApp schickten sich Polizeischüler aus Mühlheim am Main rassistische und antisemitische Inhalte: Eins der Fotos zeigt das Gesicht eines Schwarzen, auf den ein Zielfernrohr gerichtet ist, dazu der Satz im Schriftzug der Waffenfirma Heckler & Koch: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt".
Im Dezember wurden Morddrohungen gegen die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz bekannt. Sie kämpft unter anderem für die Opfer des NSU, der 2006 in Kassel, 20 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt, Halit Yozgat in einem Internetcafé mit zwei gezielten Schüssen ermordete.
Das ist nur eine Zusammenstellung von Nachrichten aus meiner Heimat, die in der letzten Zeit an mir gerüttelt haben. Ich sage nicht: Hessen ist das neue Sachsen. Aber: Wer das Problem Rechtsextremismus in den Osten Deutschlands verlagert, verdrängt damit etwas, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Der exotisiert ein Problem, mit dem sich auch jeder im Westen beschäftigen muss. Weil auch dort - und vielleicht sogar vor allem in strukturschwachen, ländlichen Gegenden - rechte Strukturen existieren und Rechtspopulisten die Ängste der Menschen für ihren Erfolg nutzen.
"Das Problem lässt sich nicht mehr von der Hand weisen", sagt Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen, die wie ich in Nordhessen geboren und aufgewachsen ist. "Retrospektiv würde ich sagen, dass es konstant das gleiche Potenzial hier gab. Das ist jetzt nur präsenter, es existiert ein größerer Druck auf Behörden und das gesellschaftliche Klima insgesamt ist ein anderes. Die Leute trauen sich mehr."
Ich habe mit alten Schulfreundinnen und ihren Eltern über dieses Klima und rechtes Gedankengut in meiner Heimat gesprochen. Fast alle wollten reden, viele aber nur anonym.
Wenn ich an Zuhause denke, fällt mir weites Ackerland ein, satte Rapsfelder bis zum Horizont und der sumpfige Geruch von Gülle. 80 Prozent der Fläche Hessens nimmt der ländliche Raum ein. Dörfer, Kleinstädte, Gemeinden. Mir fallen die Fachwerkfassaden ein, die kleinen mittelalterlichen Kirchen in fast jedem Kaff. Ich denke an Funklöcher, an schlechtes Netz. An Leute, die keine Sorgen haben, weil sie bei Volkswagen angestellt sind und ein Reihenhaus besitzen, vor dem ein Auto pro Familienmitglied parkt. Für mich ist klar: Ich bin im Idyll aufgewachsen.
"Die Menschen leben gerne hier", sagt die Mutter eines alten Klassenkameraden, selbst Lehrerin. "Aber sie fühlen sich nach und nach vergessen." Die Region, die während der NS-Zeit so braun war, dann Wohlstand erlebte, sehe jetzt zu, wie es wieder bergab geht: Ämter und Schwimmbäder machen dicht, im nächsten Krankenhaus schließt die Geburtshilfestation. Das rufe Wut und Aggression bei Leuten hervor, die sich ohnmächtig fühlen. Dazu kamen die Flüchtlinge. "Die AfD weiß das zu nutzen."
Bei der letzten Kommunalwahl bekommt die AfD in meiner Heimatgemeinde knapp 12 Prozent - doppelt so viel wie FDP und Linke. Die Partei ist mittlerweile in ganz Hessen in der Kommunalpolitik vertreten. Der Vater eines alten Klassenkameraden ist Fraktionsmitglied. Der Schulfreund ist heute 27 und Softwareentwickler. Früher eher der Außenseiter-Typ, etwas dicker als die anderen, still. Er ist nach der Zehnten auf die Realschule gewechselt, hat nach Ausbildung und Fachabi angefangen zu studieren.
Als Jugendliche auf dem Land war unser größtes Problem, welche Eltern einen zur nächsten Kirmes fahren und wer da wie viel Jacky-Cola verträgt. Große Konflikte wegen Rassismus kannte ich jedenfalls nicht. Vielleicht auch, weil ich niemanden kannte, der hätte diskriminiert werden können. Die "Quoten-Ausländer" an unserer Schule, wie ein Freund sie früher nannte, waren gut integriert, ihre Eltern lebten in zweiter Generation in Deutschland und sie selbst schießen sonntags die Tore für den Verein. Unsere Freunde waren Türken, Italienerinnen, Kasachen - aber das seien keine "Ausländer", sagt eine Schulfreundin. Sie arbeitet mittlerweile für den Staat, hat ein Haus und ist verheiratet.
"Bei uns herrscht der Konsens: Ausländer, die brauchen wir hier nicht. Ich glaube, dass das eine grundsätzliche Haltung hier ist. Viele trauen sich nur nicht, genau das zu sagen. Weil man sowas in Deutschland nicht sagen darf. Ich gehe nicht mehr in Kassel einkaufen, weil da mehr Ausländer sind als früher. Da habe ich Angst, vor allem als Frau. Im Dorf hier gibt es nur zwei Ausländer, aber wenn was passiert, randaliert wurde oder es eine Schlägerei gab, denken viele, dass es die waren."
Sozialpsychologen nennen das Phänomen den "Halo-Effekt", eine Wahrnehmungsverzerrung: Wir bilden uns unwillkürlich ein, dass jemand mit bekannten Eigenschaften ein guter Mensch sein muss. Andere Merkmale wie dunkle Haut, unverständliche Sprache, Kopftuch, unordentliche Kleidung machen das Gegenüber zu einem schlechteren Menschen. Das Problem: Vorurteile sind schwer zu revidieren. Vor allem, wenn man nicht aktiv dagegen ankämpft. Manchmal werden sie zu selbsterfüllenden Prophezeiungen: Wer in Fremden etwas Böses sieht, neigt eher zu Ausgrenzung und befeuert damit das Aggressionspotenzial des anderen.
Mehr auf VICE.com
Zum Original