Helsinki Hauptbahnhof, Gleis 9. Von außen gleicht der Doppelstockwagen in Grün-Weiß den Schnellzügen nebenan. Doch der Weihnachtsmann, der von einem Aufkleber auf der Zugseite herunterlächelt, deutet auf ein besonderes Ziel: Rovaniemi, Lappland.
Gut zwölfeinhalb Stunden wird der Santa-Claus-Express des finnischen Bahnkonzerns VR dorthin brauchen: in die vermarktete "offizielle" Heimat des Weihnachtsmanns, gut 950 Kilometer nördlich der finnischen Hauptstadt. Auf dem Weg dorthin sind allerdings nicht nur Menschen, die dem bärtigen Mann einmal die Hand schütteln wollen. Auch Klimaschützer, inkognito reisende Musikstars und Polarlichtjäger sind unter den fast 400 Fahrgästen, die heute, wenige Monate vor der Coronakrise, unterwegs sind. Der Express fährt mehrmals täglich, ob Sommer oder Winter.
18.49 Uhr - Der Zug rollt anPassagiere schieben schwere Rollkoffer durch die Gänge. Eine Familie mit zwei Kindern sucht ihre Kabine. In Teamarbeit wuchten sie ihr Gepäck die Treppen hinauf ins Oberdeck. Lohn der Mühe: Oben ist jede Kabine mit eigener Toilette und Dusche bestückt. Im Unterdeck teilen sich acht bis zehn Leute die sanitären Anlagen. Der Aufpreis für das Extra an Privatsphäre: 50 Euro pro Person. Ansonsten gibt es keinen Komfortunterschied: Alle Abteile sind mit je einem Doppelstockbett ausgestattet. Die Familie nutzt die Chance, zwei benachbarte Abteile mit einer Tür zu verbinden.
Fast leer rollt der Zug langsam aus dem Bahnhof Helsinki. Die meisten Gäste werden noch zusteigen. "Wir sind voll ausgebucht", sagt Schaffnerin Katja Hietala. Alle sieben Waggons mit ihren 266 Schlafplätzen werden offiziell belegt sein. Auch die 131 Sitzplätze in zwei weiteren Waggons im vorderen Zugteil füllen sich noch im Laufe der Zeit. Bis der Zug in Rovaniemi ankommt, legt er elf Stopps ein. Bis zum Ziel Kemijärvi sind es noch zwei weitere Stationen.
Hietalas Outfit ist schlicht und praktisch, Logoshirt und Hose sind unifarben grün. Im Kontrast dazu steht das Rot ihrer Brille, Ton in Ton mit ihren knallroten Locken. Wenn sie spricht, beendet sie jeden Satz mit einem Lachen. Sie nehme das Leben nicht so schwer, sagt die Mitte 40-Jährige.
Seit drei Jahren arbeitet Hietala in den finnischen Nachtzügen. Zuvor hatte sie im Norden Finnlands als Kellnerin gejobbt, doch die Arbeit im Zug reizte sie mehr. Am meisten liebe sie die Momente, wenn Passagiere zum ersten Mal inmitten der Nacht die Nordlichter entdecken und aufgeregt auf den Flur rennen, sagt sie. Und das, obwohl Katja Hietala danach die Scheibe putzen muss, weil sich alle so fest daran gedrückt haben. Dadurch wisse sie aber jeden Tag mehr zu schätzen, in welch schönem Land sie lebe, sagt sie. Am Polarkreis sind die Lichter von September bis März zu sehen. Jetzt dreht sie ihre erste Runde: Fahrkartenkontrolle.
Wagen 27, Betten 116 und 117: Hier, weit hinten und unten im Zug, kuscheln sich Chiara und Lorenzo aus Mailand zusammen. Leicht beengt zwischen Koffern, dicken Jacken und finnischem Dosenbier haben sie es sich, soweit es geht, gemütlich gemacht. Viel Platz für Romantik wird sich in den Doppelstockbetten nicht ergeben. Die Tür lassen die beiden - wie viele bei Abfahrt - offen stehen, um mehr Platz zu haben. "Außerdem kommt man so mit anderen ins Gespräch", sagt Lorenzo.
Das Paar stieg nach einem Flug und einer kurzen Stippvisite in der Hauptstadt in den Zug nach Lappland. "Wir wollen Babbo Natale sehen", sagt Lorenzo Di Micco, Küchenbediensteter aus Mailand. Den Weihnachtsmann. Ein Kindheitstraum, für den er einige Jahre gespart habe. Die Zugfahrt war eine der günstigsten Möglichkeiten ihrer Reise. Die Sitzplätze kosten rund 80 Euro für die 12,5-stündige Fahrt nach Rovaniemi - eine Ersparnis von 30 Euro gegenüber den Schlafplätzen. Zehn Prozent des Ticketpreises gehen als Steuer an den Staat.
In Deutschland gelten seit 2020 nach langem Hickhack in Berlin nur noch sieben Prozent Mehrwertsteuer auf Bahnfahrten. Doch für Nachtzüge sah es lange mau aus. Ab Dezember 2021 sollen jedoch neue Nachtzüge zwischen Wien, München und Paris sowie Zürich, Köln und Amsterdam verkehren. Ab Dezember 2023 wollen die Deutsche Bahn, die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die französische SNCF und die Schweizerischen Bundesbahnen sogar die Städte Wien und Berlin mit Brüssel und Paris verbinden, Ende 2024 dann Zürich mit Barcelona - so weit der Plan.
Doch an Finnland kommt das dann immer noch nicht ran: In Helsinki begeben sich jeden Abend sechs Züge auf den Weg quer durch das Land. Darunter auch der Santa-Claus-Express. Der Zug hat sieben Waggons mit je 16 Schlafplätzen im oberen Teil und 22 Schlafplätzen im unteren Teil.
20 Uhr - Ein Traum in Grün-WeißJeder dritte Fahrgast nutzt die Billigversion des Sitzplatzes im unteren Teil. Auch Kaisa Kurritu - unfreiwillig, da sie erstmals spontan via App gebucht hatte und keine Kabine mehr frei war. Doch Schaffnerin Katja Hietala beruhigt sie: Eigentlich sei alles ausgebucht, aber es blieben immer mal wieder Kabinen trotz Reservierung frei. Während Kurritu wartet, vibriert ihr bemützter Kopf, den sie an die Scheibe gelehnt hat. Der Zug ruckelt etwas mehr als ein ICE. Für Stunden wird nun draußen nichts mehr zu erkennen sein, selbst die Bahnhöfe sind spartanisch beleuchtet.
21 Uhr - Kalkül und ErlösungNatürlich könnte Kaisa Kurritu auch einfach für eine Stunde ins Flugzeug steigen, das käme ihr aber wie Verrat vor, sagt sie: Schließlich ist sie Nachhaltigkeitsberaterin. Im Nachtzug bekomme sie immerhin ihre acht Stunden Schlaf, könne noch ein bisschen arbeiten - und ihr Portemonnaie schonen. Schrittweise senkte VR die Preise im Fernverkehr: 2016 um ein Viertel, 2017 um weitere zehn Prozent für die günstigsten Fahrkarten, Ende 2019 kamen neue Ermäßigungen für Studierende, Kinder, Senioren und Wehrpflichtige hinzu.
Schaffnerin Hietala kommt mit guten Nachrichten zurück: Ein Bett ist noch frei. Schnell rafft die Kurritu ihre Sachen zusammen, zieht ihr Laptop-Ladekabel aus der Steckdose und eilt in die Kabine.
Wie frisch aus dem Werk wirken die Schlafwagenabteile mit ihren weißen Wänden, Holzoptik-Türen und chromglänzenden Handläufen im Gang. In diesem Zug wurden sie erst vor wenigen Jahren das letzte Mal renoviert. Seither werden defekte Teile direkt ausgetauscht, nicht einmal Kofferschleifspuren finden sich im Flur.
In den zwei Großraumwaggons mit reinen Sitzplätzen geht es jedoch weniger modern zu. Die Waggons haben teilweise schon mehr als 40 Jahre auf dem Buckel: Davon zeugen die dicken, ausgesessenen Polsterstühle. Die lila Stoffbezüge und orangefarbenen Kopfstützen stammen noch aus den Achtzigerjahren, erzählt Hietala. Auch hier kontrolliert sie die Fahrkarten.
22 Uhr - Schnapsliebhaber harren ausAnschließend geht es für die Schaffnerin in den Speisewagen. Goldfarbene Geländer grenzen die Sitzgruppen voneinander ab. Stehlampen, die Straßenlaternen ähneln, sorgen für gediegene Atmosphäre. Hier ist um diese Uhrzeit Ruhe eingekehrt. Erst zur Frühstückszeit wird es wieder Gedränge geben. In acht Stunden serviert die Bedienung ein Menü aus Porridge, Heißgetränk und Orangensaft für 7,50 Euro. Das Monopol auf Schienen scheint VR damit nicht auszunutzen: Für finnische Verhältnisse ist das Essen sogar günstiger als im Land üblich. Dafür schmeckt es auch weniger gut.
Ein Mann hält sich im hinteren Bereich des Waggons an einem der hohen Tische fest. Vor ihm steht ein Plastikbecher mit orangefarbenem Getränk. Sein Atem verrät: Alkohol. Dazu passt auch das undefinierbare Grunzen, mit dem er jedes Ruckeln des Zuges kommentiert. Als er Hietala mit ihren roten Locken entdeckt, fällt er beim Winken fast vom Stuhl. Hietala wünscht ihm eine gute Nacht und macht mit einer kurzen Handbewegung klar, dass es jetzt Zeit zum Schlafen sei.
Die Schaffnerin wirkt so, als gebe es keine Situation in diesem Zug, die sie nicht mit einem Spruch und ihrem Lachen lösen könnte. Auch berühmte Fahrgäste hat sie schon gehabt: Rockstars, Schauspieler und Minister. Überwiegend seien es finnische Bandmitglieder gewesen, die sich die gesamte Fahrt im Oberdeck verschanzten, um inkognito zu bleiben. Auch heute wieder.
"Heute verläuft zum Glück alles reibungslos", sagt Hietala. Zu Beginn habe es lediglich kein Wasser im Speisewagen gegeben. Ein technischer Fehler offenbar, der sich nach einiger Zeit von selbst löste. Im finnischen Winter mit massig Schnee könne es schon mal unangenehme Überraschungen geben. Lappland erreicht mitunter Temperaturen von minus 40 Grad - und die Bahn fährt trotzdem. Wenn Züge wegen zu viel Schnee feststecken, dann oft gleich mit vier oder fünf Stunden Verspätung.
0.38 Uhr - Alles schläft, Hietala wachtEs ist still im Zug. Im Santa-Claus-Express seien schon Passagiere verloren gegangen - aber mit Happy End, erzählt Hietala. Einmal hätten sie einen Mann aus Malaysia im Winter am Bahnsteig vergessen. Der Tourist wollte Polarlichter fotografieren und war bei Minusgraden in Badeschlappen und kurzer Hose aus dem Zug gesprungen. An der nächsten Station stieg der Mann wieder zu - ein Taxi hatte ihn bis zum Bahnhof gebracht.
Die Schaffnerin dreht nun vorerst ihre letzte Runde. Alle Kabinen der Schlafwagen sind geschlossen. In den Sitzwagen müht sich mancher Passagier, kauernd zwischen Armlehne, Notbremse und Fenster ein bisschen Schlaf zu bekommen. Und auch Hietala kann sich kurz im engen Mitarbeiterkabinchen ausruhen, zumindest solange niemand an die Tür klopft.
6 Uhr - Ende einer dunklen NachtDrei orangefarbene Ziffern leuchten auf der Uhr am Kopfende des Bettes. 6 Uhr. Auf den Gängen poltert es, die Wände sind hellhörig. Die ersten Reisenden wanken im Unterdeck zu Toiletten und Duschen. Rote Lämpchen zeigen an, dass sie besetzt sind. In jedem Zimmer verbirgt sich ein Stahlwaschbecken hinter einer hellblauen Klappe, das reicht zum Zähneputzen. Dann knarzen die Lautsprecher neben dem Bett. Katja Hietala verkündet per Lautsprecher die baldige Ankunft in Rovaniemi, direkt in der Nähe des Polarkreises. Der Himmel schimmert leicht pink-grünlich - Nordlichter!
Um 7.28 Uhr fährt der Santa-Claus-Express schließlich in den Bahnhof ein. Eine Armada von Taxis steht bereit. Schaffnerin Katja schätzt, dass jeder zweite Fahrgast in der Hauptstadt Lapplands mit 62.000 Einwohnern aussteigt. Etwas außerhalb Rovaniemis liegt das ganzjährig geöffnete Weihnachtsmanndorf, sein Postamt bearbeitet alljährlich Tausende Briefe von Kindern aus aller Welt.
Der Zug wird jetzt noch anderthalb Stunden weiterfahren nach Kemijärvi. Dann ist auch Hietala am Ziel, in ihrem roten Haus am See. Sie freut sich auf das eigene Bett. Und auf das Tageslicht, sagt sie, denn das sieht sie in den Nachtschichten und in der dunklen Jahreszeit Finnlands nur selten.
Maren Jensen und Björn-Hendrik Otte sind freie Autoren des SPIEGEL. Die Reise, die wenige Monate vor der Coronakrise stattfand, wurde unterstützt von der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Anm. d. Red.: Ursprünglich hieß es im Text, die staatliche finnische Verkehrsinfrastrukturbehörde Väylä, abgekürzt als VR, betreibe den Zug, tatsächlich handelt es sich bei VR jedoch um einen finnischen Bahnkonzern. Die entsprechende Stelle wurde angepasst.