2017 wurde es ruhiger um Griechenland. Doch vor Ort sind die Krisen deutlich zu spüren:
Arbeitnehmer stehen vor der Depression, Flüchtlinge vor überfüllten Camps.
Ein weißer Van parkt vor dem griechischen Parlament, am Syntagma-Platz in Athen. Der Wagen ist alt, ein Benzinfresser mit Rostspuren. Fünf bärtige Männer sitzen darin, am Boden eingerollte Plakate, Fahnen, ein Megaphon. Nikos Voultsos springt aus dem Auto, unter den linken Arm fünf Papprollen geklemmt, in der rechten Hand hält er einen Plastiktisch. Die Demonstration soll reibungslos ablaufen, die Botschaft ankommen.
An diesem Montag Mitte Jänner wird im griechischen Parlament die Mehrheit für eine Einschränkung des Demonstrationsrechts stimmen. Streiks sind dann nur noch erlaubt, wenn 50 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder dafür stimmen. Bisher reichten 20 Prozent. Voultsos lässt sich das nicht gefallen und sagt das öffentlich, wird das weiterhin öffentlich sagen. Er ist 31 Jahre alt und seit drei Jahren arbeitslos. Darüber, dass die Arbeitslosenquote im Jahr 2017 zum ersten Mal seit 2011 auf unter 21 Prozent gefallen ist, kann er nur lachen.
Immer wieder spuckt ihn der griechische Arbeitsmarkt aus: Kellner, Lagerarbeiter, Taxifahrer. Keinen dieser Jobs behielt er länger als ein halbes Jahr. „Ich gehöre zu den Verlierern der Krise“, sagt er, streicht dabei über sein Megaphon. An Familie sei nicht zu denken, täglich kämpfe er gegen Depressionen. Voultsos ist nicht alleine. Vielen in Griechenland geht es so. Die Erwartungen an das linke Bündnis Syriza waren hoch. Die Enttäuschung und Wut zwei Jahre nach der Wahl ist groß.
Auch Aggiliki Haritou ist frustriert. Die 25-jährige lebt auf Kreta und ist auf Teilzeitbasis in einem Café angestellt. Tatsächlich arbeitet sie bis zu zehn Stunden an sechs Tagen der Woche. Das Geld, das sie schwarz verdient, bekommt sie in einem Briefumschlag. „So ein Deal ist ganz normal, vor allem in Bars und Restaurants“, sagt sie. Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommt sie nicht. „Die Leute, die Weihnachtsgeld bekommen, zahlen es offiziell ein und geben es dann wieder an ihre Chefs zurück. Sie haben Angst vor der Kündigung.“ 3,50€ pro Stunde, es gibt zu viele Menschen, die den Lohn gebrauchen könnten. Aggiliki lacht den Ernst der Lage weg. Auch das ist Griechenland: Es ist schlimm, doch es könnte noch schlimmer sein.
Vor dem Parlament versammeln sich immer mehr Menschen, marschieren an das Gebäude heran. Die Bereitschaftspolizisten stehen ihnen in schusssicheren Westen gegenüber. Die linke Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte eine Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation versprochen. Doch der Druck der internationalen Kreditgeber war größer: 2019 stehen die nächsten Rentenkürzungen und Steuererhöhungen an.
Zeitgleich versuchen die Kommunen mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) anerkannte Flüchtlinge aus den Camps in Privatwohnungen umzusiedeln. „Viele Griechen fragen, warum ihnen keine Wohnung bezahlt wird“, sagt Athens Migrationsbürgermeister Lefteris Papagiannakis. „Dabei verstehen sie nicht, dass das Geld für die Flüchtlinge von einem europäischen Fonds kommt und nicht vom griechischen Staat.“
Die Ankünfte von Flüchtlingen in der Ägäis sind seit dem EU-Türkei-Abkommen weniger geworden. 29.718 Menschen waren es laut UNHCR 2017, fast nur noch ein Fünftel der Ankünfte vom Vorjahr. Doch die Anzahl der Asylanträge belief sich auf 58.661 – mehr als 2016. Die Erstaufnahmezentren auf den Inseln Lesvos, Samos und Chios sind noch immer brechend voll. „Familien schlafen auf Pappkartons, während sie für unbestimmte Zeit darauf warten, aufs Festland weiterreisen zu können“, sagt Aziza Fahim, die für ARSIS arbeitet, eine der NGOs, die mit der Umsiedlung der Flüchtlinge in Wohnungen betraut ist.
Seit vergangenen Sommer versucht der griechische Staat, die Verantwortung von den internationalen Organisationen zurückzunehmen und die Situation selbst zu managen. „Aber der Staat ist nicht bereit dafür. Griechenland hat sich nie aktiv um Migration gekümmert“, erklärt Papagiannakis. „Die Leute sind einfach durch Arbeit in der Gesellschaft angekommen.“
Arbeit, die jetzt in Griechenland fehlt. Pünktlich sind alle Demonstranten eingetroffen. Der Protest am Syntagma-Platz ist gut organisiert, besser als vieles andere in Griechenland. Kein Passant kommt an der Menschenmenge vorbei, ohne einen Flyer von einem der zahlreichen jungen Menschen entgegenzunehmen. Nikos Voultsos ist mittendrin. Er kennt den Ablauf, ahnt, dass es Zusammenstöße mit der Polizei geben wird. Doch sein Einsatz ist das Einzige, was ihm bleibt. Das Recht auf Protest lässt er sich nicht nehmen.