Mareike Thuilot

Freie Autorin, Journalistin und Online-Redakteurin, Köln

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So lebt es sich in einer autofreien Siedlung

"Stellwerk 60" in Köln

So lebt es sich in einer autofreien Siedlung

01.04.2021, 17:16 Uhr | Von Mareike Thuilot

Kein Platz fürs Auto: Im "Stellwerk 60" leben rund 1.500 Menschen - Straßen oder Parkplätze gibt es in der Siedlung jedoch nicht. (Quelle: Mareike Thuilot)

Spielende Kinder statt Motorengeräusche und Benzingestank: Die autofreie Siedlung "Stellwerk 60" in Nippes gilt als erfolgreiches Beispiel für alternative Wohnformen. Ein Besuch in einer Siedlung, die einst als Öko-Projekt belächelt und mittlerweile von der Zukunft eingeholt wurde.

Wer zwischen Mehrfamilienhäusern und bunt gestrichenen Holzverschlägen im "Stellwerk 60" steht, dem fällt sofort auf: Die Geräuschkulisse ist untypisch für ein Kölner Wohngebiet. Autos hört man keine, dafür Kinder, Fahrradklingeln und eine S-Bahn, die in hundert Metern Entfernung vorbeirauscht. Stadtleben ohne Auto - ist das Nischenprojekt oder Zukunftsmodell?

"Für uns ist das Lebensqualität. Man geht aus der Wohnung raus und da sind keine Autos, sondern Platz", erzählen Jan und Lena, Eltern von fast zweijährigen Zwillingen. "Wir können uns nicht mehr vorstellen, in einer dicht bebauten Straße zu wohnen, wo man mit den Kindern nicht mal zwei Meter angstfrei vor die Haustür gehen kann." Seit 2016 wohnen sie am Rande der autofreien Siedlung in Köln-Nippes. Fast alles, was sie zum Leben brauchen, sei zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar. Die Kinder fahren im Radanhänger mit, zur Arbeit geht es mit Bahn und Fahrrad. Alle paar Wochen nutzen sie ein Carsharing-Angebot.

Rund 1.500 Menschen wohnen hier in etwa 450 Wohnungen und Einfamilienhäusern auf einem ehemaligen Bahngelände. Fahrrad- und Fußwege führen durch vierstöckige Häuserreihen, dazwischen sind kleine Spiel- und "Versammlungsplätze". Hier wurde vor Corona an lauen Sommerabenden oft gemeinsam ein Glas Wein getrunken oder Boule gespielt, erzählt Hans-Georg Kleinmann, ein freundlicher, ruhiger Mann und Vorstandsmitglied des Vereins "Nachbarn 60". Auf der großen Wiese neben der Siedlung lassen Familien Drachen steigen, Kinder spielen Fußball. Der Siedlungskiosk mit Bäckerei ist ein beliebter Treffpunkt.

Besucher aus der ganzen Welt lassen sich das Konzept erklären

Kleinmann ist fast von Anfang an dabei und erlebte die Siedlung von der ersten Vision bis hin zum belebten Wohngebiet. Obwohl es eine der größten solcher Siedlungen in Deutschland ist, kennen sie viele Kölnerinnen und Kölner nicht. Dafür kämen jedoch Besucher aus aller Welt und ließen sich das Konzept erklären, erzählt er nicht ohne Stolz.

Die Idee zur autofreien Siedlung hatte Mitte der 90er-Jahre ein Arbeitskreis von Kölnern, 2013 wurde das Bauprojekt abgeschlossen. Die Initiatoren besaßen selbst kein Auto und wollten auch keins der Nachbarn vor der Tür stehen haben. Bis heute eint dieser Gedanke die meisten Anwohner.

Nur 80 private Stellplätze gibt es im angrenzenden Parkhaus - das war damals ein Kompromiss mit der Stadt Köln. Fast alle übrigen Bewohner fahren Fahrrad oder Bahn, nutzen ein Carsharing-Angebot zum Sondertarif oder mieten, wenn nötig, ein Auto der anderen Anbieter. Für private Fahrzeuge gilt ohne kostenpflichtige Sondergenehmigung ein strenges Fahrverbot in der Siedlung, nur Notdienste, Müllabfuhr und Straßenreinigung haben freie Fahrt. In den Tiefgaragen mit Rampe und direktem Zugang zu den Wohnungen stehen Fahrräder auf parzellierten Plätzen - dafür gab es 2013 den dritten Platz beim Deutschen Fahrradpreis.

Das Motto ist Teilen statt Besitzen

Wer Mitglied im Verein "Nachbarn 60" ist, kann außerdem für einen kleinen Jahresbeitrag die Mobilitätsstation nutzen und Bollerwagen, Fahrradanhänger, Elektro-Lastenräder, Tretroller, Bierzeltgarnituren und ähnlich Praktisches ausleihen. Das Motto ist Teilen statt Besitzen, so lernen schon die Kinder Umgang mit Gemeineigentum. Um die Organisation und Pflege kümmert sich eine Arbeitsgruppe.

Überhaupt ist hier viel gemeinschaftlich organisiert, der soziale Zusammenhalt sei groß, erklärt Vorstandsmitglied Kleinmann. Regelmäßig trifft sich etwa die Urban Gardening- und die Klimagruppe, es gibt Kleidertauschbörsen und Gemeinschaftsräume. Durch Corona werde das soziale Leben jedoch auch hier ausgebremst.

Das Klientel im Quartier ist gemischt: Gut drei Viertel der Wohnungen sind vermietet, der Rest ist Eigentum. Neben einem Wohnblock mit öffentlich geförderten Wohnungen gibt es ein Mehr-Generationen-Wohnprojekt und betreute Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Auch die umliegenden Wohnblöcke kommen mit wenigen Straßen aus, Anwohner parken hier hauptsächlich in Tiefgaragen.

Was klingt wie ein Paradies für gestresste Großstadtfamilien, stieß jedoch nicht immer auf Wohlwollen. Als 1994 die Vision einer autofreien Siedlung entstand, wurde das Auto als Statussymbol in der breiten Bevölkerung kaum hinterfragt. Das Ringen um politische Mehrheiten und die Suche nach einem geeigneten Baugelände gestaltete sich für die Interessensgemeinschaft mühsam, erzählt Kleinmann. "Deutschland und auch die Stadtverwaltung in Köln sind autoaffin", ist er überzeugt.

Die Einstellung ändere sich zwar langsam, jedoch nicht fundamental. Trotz vieler in den Weg gelegter Steine habe man damals schließlich grünes Licht vom Kölner Stadtrat bekommen und einen niederländischen Immobilienentwickler als Investor für das 80 Millionen Projekt gefunden.

"Wir werden von der Zukunft eingeholt"

"Früher wurden wir als Öko-Nerds belächelt", erinnert sich Kleinmann. Heute stieße die Idee des autofreien Lebens auf immer größeres Interesse, auch durch die Klimakrise und Fridays for Future. "Wir werden von der Zukunft eingeholt."

Auch die Stadt Köln verbucht das Projekt mittlerweile als Erfolg. "Die autofreie Siedlung "Stellwerk 60" in Köln-Nippes zeigt, dass autofreie Bereiche und begrünte Innenhöfe zu einer hohen Aufenthaltsqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner führen" heißt es auf Anfrage. Die Siedlung vereine verschiedene Ziele, die in der Stadtstrategie "Kölner Perspektiven 2030+" festgelegt seien. Dazu gehöre die "Verbindung zwischen unterschiedlichen Wohnformen, der sorgfältige Umgang mit der knappe Ressource Fläche, das erweiterte Raumangebot für Rad- und Fußverkehr und die Stärkung des Freiraumes."

Ein vergleichbares Konzept gibt es in Köln jedoch nicht und ist auch nicht geplant, wenn auch einzelne Elemente wie die Mobilitätsstation oder Fahrradabstellanlangen in anderen Siedlungen nachgeahmt werden.

Einig ist sich Kleinmann mit der Stadt über die Dinge, die man in künftigen autofreien Siedlungen besser machen könnte. Da Energieeffizienz bei der Quartiersentwicklung nicht im Fokus stand, wird heute auch auf Initiative der Bewohner nachgerüstet. Die und weitere Klimaschutzaspekte würde man heute von Beginn an stärker mitdenken, so Kleinmann. Außerdem wäre es sinnvoll, mehr Gewerbe und Dienstleistungen in die Siedlung zu integrieren. Ein weiterer Punkt: Es gibt vor allem Drei-Zimmer-Wohnungen, für große Familien sei es daher schwierig, passende und bezahlbare Wohnungen zu finden. Das Problem betrifft allerdings ganz Köln.

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