Hagelkörner schmettern wie Projektile gegen das zerkratzte Busfenster. Magere Bäume klirren. Bergketten erheben sich, ehe der Tunnel schlagartig die Sicht versperrt. Stille. Ich erblicke meine Umrisse, danach wieder das grelle Licht des Sturms. Der Beschuss beginnt von Neuem.
Ich denke an Mutter. Wie sie heimlich die Nachbarn beobachtet und dabei nervös
an ihrer Zigarette zieht. Und an ihren Geburtstag. Niemand wolle Krieg, das hat
Emir so gesagt. Mutter hat ihm beigepflichtet. Ihren 63., sagte sie, werde sie
feiern, egal was die Idioten vorhaben. Als die Nazis einmarschierten, war Mutter
zwölf. Als die Kommunisten die Macht übernahmen 16. „Wir müssen Titos Erbe
verteidigen“, hat sie mir gesagt, bevor ich in den Bus gestiegen bin. Wut, Stolz
und Unglaube mischten sich in ihren Blick. Mutter und Emir. Das ist so eine
Sache. Sie verstanden sich zu gut.
Ich streife mit meiner linken Hand über den leeren Sitz neben mir. Emir wäre nie mitgekommen. „Die Schweine“ müssten schon in jedes einzelne Dorf kommen, in jeden letzten Winkel. Nein, niemand wolle Krieg. Da ist sich Emir sicher. Ich denke an seine Locken, seine hagere Gestalt, seinen Blick, wenn er Abends Rakija trinkt und Mutter beim Rauchen zusieht.
Als der Bus rollend weiterfährt, blicke ich zurück, auf die Soldaten. Sie machen Ernst. Mir wird mulmig. Die Hagelkörner haben sich in Regen verwandelt. Schwarze Wolken verfestigen sich über dem Himmel, als wären sie aus Blei gegossen. Hier, zwischen Wäldern, löchrigen Straßen und blaugrauen Flüssen, ist die Zeit unwichtig geworden.........Auszug aus FLUCH'T'RAUM Ausgabe 5. Das Magazin hat 40 Seiten und enthält Kurzprosa, Lyrik und Essays von Christian Tschinkel, Stefanie Golisch, Manuela Tomic, Orla Wolf, Klaus Sinowatz, Martina Sinowatz, u.a. zum Thema Transformation.
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