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Berlin auf Vinyl

Berlin on Vinyl zeigt die Stadt und seine Bewohner im Wandel der Zeit

"Berlin, Dein Gesicht hat Sommersprossen", sang einst Hildegard Knef. Berlins Gesicht hat Tonspurrillen, ergänzt Bernd Leyon. Mit seinem Projekt "Berlin on Vinyl" geht es auf stadtgeschichtliche Spurensuche.


Bernd Leyon ist nicht erst Anlaufstelle eifriger Schallplattensammler, seit medial auch für den letzten Hipster vermeldet wurde, dass Vinyl zurück ist. Denn beide, Leyon wie Vinyl, waren nie fort. Er ist ein Ur-Berliner Plattendealer. Seit über 20 Jahren handelt er inzwischen mit Schallplatten, seit drei Jahren als Inhaber des "Musik Department" in Prenzlauer Berg. Dicht an dicht stapeln sich die Platten in seinem Laden und bietet der selbstbezeichnete Musik-Connaisseur und Stilist alter Schule so manchem Neuentdecker und Wiedereinsteiger nebst Aktuellem den ersten Einblick in die musikalischen Wurzeln heutiger Musik.

Jazz, Soul, Disco, Funk, Folk, Bossa Nova, Pop - kurz: zeitlose Klassiker und Genrebegründer, die oft totgesagt doch die Dekaden überdauerten. Seine Liebe zum klassischen Vinyl entdeckte Leyon auf den Flohmärkten und Plattenläden der damals eingemauerten Stadt. Neben dieser Liebe zur Musik selbst war Leyon auch ein "Coverlover". "Ich habe eine extra Abteilung bei mir, wo ich nur das Cover mit nach Hause genommen habe, unabhängig davon, ob die Musik gut war oder die Platte in einem guten Zustand." Eine alte Amiga-Schallplatte des Rundfunk-Tanzorchesters Berlin von 1970 hat es ihm dabei besonders angetan. Seit er sie 1990 auf einem kleinen Wochenmarkt in der Cantianstraße inmitten von Trödelbuden aus einer Stöberkiste zog und für zwei Mark erstand, lässt ihn das Cover "Groß Stadt Rhythmus" nicht mehr los. Immer wieder steht er vor dem Motiv, entdeckt regelmäßig etwas Neues, das ihn fasziniert. Die Gebäude, die alten Betonstelen der Gaslaternen, die es längst nicht mehr gibt. Er beobachtet die Menschen darauf, die Mode, das Agieren der einzelnen Personen im Ornament der Masse, eingefangen auf der Schönhauser Allee Ecke Dänenstraße Ost-Berlins.

Als er vor drei Jahren seinen Schallplattenladen in der Kastanienallee bezog, hat das vergrößerte Motiv als Wanddekoration einen Ehrenplatz im Eingangsbereich erhalten. Ein begeisterter Kunde bringt Leyon letztendlich auf die Idee, einen Bildband zu gestalten: das vergangene Berlin zwischen 1960 und 1989 in all seinen Facetten, entdeckt durch Schallplattenmotive. Kaum ist der Gedanke zum Buch geboren, macht er sich auch schon auf Erkundungstour. Fortan durchstöbert er unzählige Internetseiten, arbeitet sich durch Ebay-Powersellerlisten, sucht die dargestellten Straßenecken auf Karten und GoogleStreetview, durchforstet auf Flohmärkten Kisten, die er früher ignoriert hätte. Oft genug kommt er an Tagen enttäuscht ohne neue Motive für seine Sammlung nach Hause. Über Jahre sammelt sich so ein Repertoire von über 150 LPs, Singles, Tonpost- und Schallbildkarten an, fortwährend wachsend, das Berlin Ost und West vor und nach dem Mauerbau und im Wandel der Zeit bebildert. Die Klamottentrends der 60er bis zum Fall der Mauer, Föhnfrisuren, Polyesterhemden, Karottenjeans. Darüber hinaus zeigen die Bilder die Entwicklung der Westberliner Flaniermeile, des Kurfürstendamms, in all seinen Facetten, oder historische Ereignisse wie die Rede Kennedys vor dem Rathaus Schöneberg. Eine Zeitreise durch die Stadt.

In einer Zeit, in der das vermeintlich Schnelle obsiegt und in einem Entweder-Oder-Denken alles Vergangene gleich als altbacken ab- oder entwertet wird, will Leyon so die Wahrnehmung schärfen für eine Vinylkultur, die sich der Moderne nicht verschließt, die eigene Sozialisation aber für die gesichtslose Musikdatensammlung auf dem PC nicht verleugnet. "Ich möchte, dass die Leute sehen: Diese Platte hat gelebt! Sie ist ein Kulturgut, das über die Familie weitergereicht oder gefunden wurde." Durch sein Buch soll entdeckt, verglichen und die Veränderungen der Stadt Berlin über die Jahrzehnte sichtbar werden.

Den Fans des Projekts versüßt er auf seinem tumblr-Blog die Wartezeit schon mit ersten Eindrücken. Die "richtigen Knaller", so verspricht er, hebt sich Leyon jedoch für das Buch auf.

Bis zum 23. Dezember kann man sein Crowdfunding-Projekt "Berlin on Vinyl" hier noch unterstützen.

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Bilder: Promo