Tausende starben in dem Konflikt, der Hass zwischen Protestanten und Katholiken sitzt noch tief. Aber manche überwinden ihn
Er spricht viel, ein Wort eilt dem anderen hinterher, aber wenn Alan McBride den Namen seiner Ehefrau ausspricht, Sharon, verändert sich seine Stimme. Sharon ist seit 22 Jahren tot. Der Nordire verlor seine Frau bei einem Bombenattentat der Terrororganisation Irish Republican Army (IRA) in Belfast. Das Datum, der 23. Oktober 1993, wiederholt McBride nicht wie eine Reihe von Zahlen, sondern wie eine Reihe von Einschnitten. „Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern", sagt der 51-Jährige, während er am Gedenkstein im Shankill Memorial Garden steht, einem Garten in Nordirlands Hauptstadt, der den zehn Opfern des Anschlags gewidmet ist.
Durch die umliegenden Bäume scheint eine Sonne, auf die man sich nicht verlassen kann. McBrides Haare müssen mal blonder gewesen sein, seine grauen Augen vielleicht leuchtender. Er spaziert durch die Gedenkstätte und erzählt von diesem Samstag, an dem er sich von seiner Frau verabschiedete, als sie in das Fischgeschäft ihres Vaters ging, um ihm ein wenig zur Hand zu gehen, und McBride nicht wusste, dass es für immer war. „Ein Freund rief an und sagte, dass eine Bombe in der Shankill Road explodierte. Ich habe nicht mal für eine Minute daran gedacht, dass es jemanden getroffen hat, der zu mir gehört." Zu alltäglich ist der Terror in diesem Land.
Der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken führt bis ins 16. Jahrhundert zurück, als Engländer und Schotten irisches Gebiet besiedelten und die Einheimischen enteigneten. 1921 wird das Land geteilt. Protestantische Extremisten fühlen sich Großbritannien zugehörig und werden als Unionisten oder Loyalisten bezeichnet, katholische Extremisten wünschen sich eine Angliederung an die Republik Irland und gelten als Nationalisten. In bürgerkriegsähnlichen Krawallen kämpfen sie gegeneinander. In den 60er- und 70er-Jahren eskalierte die Gewalt. Ungefähr 3600 Menschen starben bisher im Nordirlandkonflikt. Sharon McBride ist eine von ihnen.
Ein anderes Opfer ist Jean McConville. Die verwitwete Mutter von zehn Kindern wurde von IRA-Anhängern entführt und an einem unbekannten Ort verscharrt. Sie zählt zu jenen, die man in Nordirland die „Verschwundenen" nennt. Menschen, die ermordet und begraben wurden, irgendwo, wo sie niemand finden sollte. Rund um die Falls Road, die Straße der irisch-republikanischen Nationalisten in Belfast, erzählt man sich, die 37-jährige Katholikin sei eine Informantin für die britische Armee gewesen. Andere, wie ihr Sohn Michael McConville, meinen, dass sie nur auffiel, weil sie einem sterbenden britischen Soldaten ein Gebet ins Ohr flüsterte. McConville erinnert sich noch genau an jene Novembernacht, als Männer und Frauen, teilweise maskiert, die Wohnung stürmten. Er war damals elf. Wenn er von der Entführung seiner Mutter erzählt, wird sein Körper starr, unruhig bohren sich seine Finger in den Sessel im Wohnzimmer. „Sie hat geweint, wir Kinder haben geweint, alle haben geweint", sagt er mit zittriger Stimme. Er spricht so leise, dass man ihn kaum verstehen kann. Es war das letzte Mal, dass er und seine neun Geschwister ihre Mutter sahen.
„Diese Menschen haben uns als Waisen zurückgelassen." Elf Monate zuvor war sein Vater an Krebs gestorben. Nun waren die Kinder auf sich allein gestellt. Sie wuchsen getrennt voneinander auf, einige im Heim. Die Menschen, die McConvilles Mutter entführten und töteten, waren nun seine Nachbarn. Er sah sie auf der Straße, beim Spielen, auf dem Weg zur Schule. Er kennt ihre Gesichter. Als Kind wurde er von ihnen bedroht, brutal, mehrfach. Einmal stachen sie ihm als Abschreckung ein Taschenmesser ins Bein. Doch die Namen will er nicht sagen. Die Angst vor Rache lähmt. Bis heute.
Der Mörder von Alan McBrides Frau war erst 19 Jahre alt. Der IRA-Terrorist zielte mit der Bombe an jenem 23. Oktober 1993 auf die protestantische paramilitärische Untergrundbewegung Ulster Freedom Fighters, deren Quartier über dem Fischladen von Sharon McBrides Vater lag. Er gab dafür sein Leben. „Was muss diesem Jungen passiert sein?", fragte der Witwer sich oft. Für den protestantisch erzogenen McBride waren Katholiken „Menschen, auf die wir Steine geworfen haben. Das waren Menschen, die fünf Minuten entfernt wohnten, aber auch genauso gut 5000 Meilen weit weg hätten wohnen können, weil es keinerlei Kontakt untereinander gab". Sichtbar wird diese Trennung an der etwa dreißig Kilometer langen Mauer, die katholische von protestantischen Gebieten trennt. „Friedenslinie" wird sie genannt.
Michael McConville wohnt nicht mehr in der Stadt. „Ich wollte nicht, dass meine Kinder in dieser Atmosphäre aufwachsen." Mit seiner Familie lebt er in Crumlin. In dem Vorort der nordirischen Hauptstadt ist es ruhig. Jedes der Häuser hat einen Vorgarten, auf den grünen Hügeln grasen Schafe. Eine Idylle wie aus Rosamunde-Pilcher-Filmen. Aber erstaunlicherweise ist sie Realität, denn Crumlin ist konfessionell gemischt. Protestanten und Katholiken leben hier friedlich miteinander, ohne Mauern. Es hat Jahre gedauert, bis McConville die negativen Gefühle seiner Kindheit und Jugend verbannen konnte. „Ich war voller Hass und verbittert", sagt er. „Jetzt bin ich es nicht mehr."
Wie seine Mutter war, der für ihn wichtigste Mensch damals, darüber dachte er immer wieder nach. Jean McConville verspürte keinen Hass. Für sie waren alle Geschöpfe gleich. Und so lernte er, den Menschen, die sein Leben ruinierten, zu verzeihen. Dabei halfen ihm auch seine Tauben, die er züchtet. Wenn er eine von ihnen stolz vorführt, sie sanft mit seinen Händen umschließt, über die Federn streichelt, wirkt der zurückhaltende McConville gelöst. Sein Vater hatte Tauben geliebt. „Sie erinnern mich an glückliche Zeiten, als meine Familie noch komplett war", erzählt er offen. Die Vögel, die große Distanzen fliegen können und immer wieder zurückkehren - sie faszinieren ihn. „Die Tauben sind seine Therapie", sagt McConvilles Frau.
Nach Sharons Tod übermannte Alan McBride der Hass auf alles Katholische, Republikanische, Nationalistische. Er schrieb Briefe an den mutmaßlichen Drahtzieher der Bombe, Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams, demonstrierte gegen die irisch-republikanische Partei mit Plakaten. Und er besuchte das Grab seiner Frau, wieder und wieder. Bis zu dem Moment, als er merkte: Wut und Gram ändern nichts. „Mir wurde nach und nach bewusst, dass die Situation hier nicht gelöst wird, wenn ich so bleibe." Und so begann McBride, sich im Wave Trauma Centre zu engagieren. Der Verein hilft seit 1991 Opfern des Nordirlandkonflikts, organisiert Gruppentherapien, Zeichenkurse, Marathonläufe. Im März hat die Begegnungsstätte dafür den UK Award erhalten.
„Ich kann diesen Menschen vergeben, aber nicht vergessen, was sie getan haben", sagt McConville. Der Blick zurück ist am schlimmsten. Die Erinnerung. Immer wieder überkommen ihn diese Rückblenden. Dann fühlt es sich an, als sei seine Mutter erst gestern entführt worden. 2003 hat ein Spaziergänger Jeans Leichnam am Shelling Hill Strand gefunden. 31 Jahre nach ihrem Verschwinden konnte sie endlich beerdigt werden. „Ich hatte schon davor meinen Frieden gefunden. Aber nun habe ich einen Ort zum Trauern." Er geht so oft wie möglich zum Grab seiner Mutter. Auch das Traumazentrum hilft ihm dabei, zu verarbeiten, was so schwer zu begreifen ist. Es tut ihm gut, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, was passiert ist.
McBride ist Koordinator des Wave Centres, Kopf des Ganzen, Leitfigur für alle, die die Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Sein Vorbild als Friedensstifter ist dabei niemand Geringeres als Jesus. „Das Leben kann furchtbar sein, und es ist furchtbar gewesen. Aber man kann lernen, wieder zu leben, zu lachen, zu lieben", sagt McBride.
Abends trifft er sich mit seiner Lebensgefährtin Kerry in seinem Lieblingspub im Stadtkern. Ihm gefällt das ethnisch gemischte Publikum und besonders die Tatsache, dass ein Teil der Einnahmen wohltätigen Zwecken gespendet werden. Tische und Hocker aus dunklem Holz, Stimmengewirr, an der Bar kann man „Belfast Blonde" oder „Irish Redhead" bestellen, eine Band spielt Folk, und McBride trommelt dazu mit den Fingern auf dem Tisch. Hier genießt man einfach, ein paar Bier zu trinken und zusammen zu sein. „Es ist ein Eindruck davon, wie Nordirland sein könnte."