Am Ortseingang liegt gleich der Friedhof, die Zugangsstraße führt mitten hindurch. Als sollte es ein Zeichen sein. Die Gassen wirken nicht lebendiger. Kein Mensch zeigt sich, nicht mal eine Katze, ein Vogel. Irgendwo wird bestimmt gleich eine alte Holztüre, schief in den Angeln hängend, im Wind schaukelnd knarren, und Henry Fonda sich mit seinen Sporenstiefeln breitbeinig in den Weg stellen, bereit, jederzeit den Revolver zu ziehen. Ennio Morricone spielt die passende Musik. Das Lied vom Tod? Nicht ganz. Ein paar Bewohner sind geblieben in Yörük Köyü, einem kleinen Dorf in der Provinz Karabük, 200 Kilometer nördlich von Ankara.
Erhan Bascharan zum Beispiel. Im eleganten Wollpullover und Jogginghose steht er vor seinem Haus, der ergraute Kinnbart ist sorgfältig gestutzt. Er füttert ein paar Katzen (es gibt sie doch), entbietet dem Gast ein "Hosch Geldiniz", ein herzliches Willkommen und entschuldigt sich für die Jogginghosen: "Pardon, ich hatte keine Besucher erwartet." Ein paar Gassen weiter ertönt ein Hupen. "Oh, einen Moment", ruft Erhan winkend und eilt mit einem Lächeln davon. "Der Ekmekci, der Bäcker, ist gerade ins Dorf gekommen. Ich muss schnell noch ein paar Brote holen. Ich bin gleich zurück." Zeit also, sich weiter umzusehen.
Und tatsächlich, es gibt weiteres Leben. Im Cayhane, dem Teehaus, sitzt Ferhat hinter der Theke. "Frischen Tee möchtet ihr? Sehr gerne, ich muss aber erst welchen aufbrühen." Zwei ältere Männer haben sich eingefunden und – offenbar angeregt durch die etwas verloren wirkenden Besucher – erzählen die Geschichte, als sich einst ein großer Bus durch die engen Gassen drängte. Der Busfahrer fragte nach dem Weg: "Wo geht es hier nach Ankara?"
Ausgerechnet an Mehmet war er geraten, der an diesem Abend zu viel Raki getrunken hatte: "Immer geradeaus", rief er dem Busfahrer zu. Und so stand der Bus plötzlich in einer Sackgasse und kam nur mit Mühen wieder heraus. Der Busfahrer war stinksauer. Obwohl das schon viele Jahre her ist, lachen die Männer noch heute über die Geschichte. "Warum verirrt sich auch ein Bus ausgerechnet hierher?", fragt einer von ihnen.
Mit Broten konnte man gutes Geld verdienen
Inzwischen steht Erhan wieder mit den frischen Brotlaiben vor seinem Haus. Seit 15 Jahren lebt er in Yörük Köyü. Es ist seine Heimat, hier ist er aufgewachsen. Wie aber alle jungen Leute verließ er das Dorf, um "etwas Sinnvolles zu machen". Er arbeitete als Buchhalter in einer Bank in Ankara. Jetzt aber, da er im Ruhestand ist, ist er zurückgekehrt. Als Hobbymaler zieht es ihn in die Ruhe. Zusammen mit seiner Frau wohnt er in einem 430 Jahre alten Haus, das sie restauriert haben. Es ist eines der ältesten Häuser im Dorf, aber es gibt noch ältere. Doch was zählt das Alter der Häuser: "Wir sind unmittelbare Nachfahren der Gründer dieses Dorfes", erklärt Erhan und reicht uns ein Stück frisch gebackenes Brot.
Sie sind Nachfahren der drei Brüder vom Stamm der Kaya Buyu, die einst als Nomaden hier lebten, eine erste Ansiedlung gründeten, dann aber mit ihren Familien weiter nach Istanbul zogen, um dort als Bäcker zu arbeiten. Dieser Beruf hatte Tradition. Noch heute sind viele Bäcker in Istanbul Nachfahren der Bewohner von Yörük Köyü und Safranbolu. Wer das Privileg besaß, am Hofe für den Sultan Brote zu backen, konnte gutes Geld verdienen, und manch einer schaffte es sogar, in die höheren Dienste des Topkapi-Palastes aufzusteigen.
Wie die Nachfahren der drei Brüder, die nach und nach in ihre Heimat zurückkehrten und prachtvolle große Konaks, osmanische Fachwerkvillen, bauten. Sie legten Gärten und Obstplantagen an, verzierten ihre Häuser mit kunstvollen Erkern, Türklopfern, geschmiedeten Schlüsseln und Schlössern. Die Geweihe an den Wänden sollen vor dem bösen Blick und den Geistern schützen. So entstand das Dorf, das sie Yörük Köyü, Nomadendorf, nannten. Dieser charmante Charakter hat sich bis heute bewahrt. Wie im benachbarten Safranbolu verfallen einige Häuser zwar, viele sind aber liebevoll restauriert.
Ein Hochglanzmagazin für 240 Bewohner
Wie das Konak von Onur, der in achter Generation zusammen mit seiner Frau hier lebt. Einen Teil des Hauses hat er als Museum umgebaut: "Damit unsere Dorf- und Hauskultur nicht verloren geht", sagt Onur. Er führt durch die Räume, erklärt die Geschichte des Hauses und zeigt auf die Glaskugel an der Decke des Empfangszimmers, die das Licht der Kerzen reflektiert, auf die über hundert Jahre alten Malereien, auf die holzgeschnitzten Fenster, die den Blick freigeben auf die grüne Umgebung und schließlich auf die gemalten zwölf Nelken an den Wänden, den zwölf Nischen und zwölf Kassetten an den Türen.
Die Familie gehört, wie fast alle Bewohner des Dorfes, den Bektaschi an, einem Derwischorden in der Tradition des schiitischen Islams, die den Imam Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammad, zusammen mit den zwölf nachfolgenden Imamen verehren. So wiederholt sich die Zahl Zwölf in allen Verzierungen.
Aber warum wirkt der hübsche Ort so verlassen? "Es ist Mittag", sagt Ferhat, der inzwischen frischen Tee serviert. "Die Familien ruhen sich aus. Und für Touristen ist es die falsche Jahreszeit. Die Saison beginnt erst im Mai." Wer mehr über das Dorf erfahren wolle, so Ferhat, der schaue in die Broschüre. Er reicht das Hochglanzmagazin "Yörük" über die Theke, das mehrfach im Jahr erscheint und über aktuelle Ereignisse des Dorfes berichtet.
Ein Hochglanzmagazin für – wie viele Bewohner? "Für etwa 240", sagt Erhan und zeigt auf einen Aushang an der Wand. Dort sind alle Männer des Dorfes aufgelistet. Dahinter steht die Anzahl der Familienmitglieder, so kommt man auf 240 Bewohner. Und wer es genau wissen möchte: Es gibt insgesamt 140 Häuser, 62 sind bewohnt, 42 Bewohner sind in den letzten Jahren ausgewandert, 180 ehemalige Bewohner kommen für zwei bis drei Monate im Jahr, 35 nur zum Bayram, den Feiertagen nach dem Ramadan. Alles genau dokumentiert.
Türkische Touristen sind besonders einfältig
Eine kleine Kunstgalerie haben sie übrigens auch, die Website www.yorukkoyu.org befindet sich im Aufbau. Nicht zu vergessen Cemil Ipekci, der berühmte türkische Modedesigner, und Leyla Gencer, die berühmte Opernsängerin, beide haben ihre Wurzeln in Yörük Köyü. Und beide sind natürlich über ein paar Ecken verwandt mit Erhan. "Wir sind zwar ein sehr kleines Dorf, aber Bildung wurde bei uns schon immer groß geschrieben".
Und das verwirre oftmals die Besucher, vor allem die türkischen Touristen, die aus den Metropolen Istanbul oder Ankara kommen: "Die sind besonders einfältig", lächelt Erhan augenzwinkernd. "Die denken alle, hier auf dem Dorf seien alle primitiv. Die machen also einen Nostalgieausflug nach Yörük und lernen zum Beispiel mich kennen, einen Maler und ehemaligen Buchhalter einer Bank. Das passt nicht in ihr Bild, sie sind enttäuscht und reisen wieder ab."
Das hohe Bildungsniveau hat aber auch seine Schattenseiten, zumindest für den Erhalt des Dorfes. Denn wie in den meisten anatolischen Dörfern zieht es die wenigen jungen Leute in die Stadt. So wie einst Erhan. "Aber sie kommen wieder", sagt er. "Wenn sie alt sind." Aber irgendwann wird es keine jungen Leute mehr geben, die zurückkommen können, wenn sie alt sind. "Daran denken wir noch nicht. Jetzt bauen wir erst mal weiter an unserer Website." Ein charmantes Seniorenheim.
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