Der Wert eines Tages bemisst sich daran, ob sie Arbeit finden oder nicht: Tagelöhner werden kaum noch gebraucht. Wie sie trotzdem um einen Platz im System kämpfen.
Und dann steigt Marcel Wrobel in den schwarzen Autobus. Wrobel, ein junger Mann mit spitzbübischem Gesicht und wachen Augen, an einer Straßenbahnhaltestelle im Ostberliner Stadtteil Friedrichshagen. Hier blickt die Hauptstadt gesättigt und gelangweilt auf die Spree. Anderthalb Stunden hat Wrobel hierher gebraucht, ist mit der S-Bahn vom Botanischen Garten im Südwesten der Stadt gekommen, dann mit der Straßenbahn. Gekommen, um herzugeben, was er zu bieten hat: sich selbst.
Wrobel reist in die Welt der Tagelöhner, er ist einer von ihnen. Für ein paar Stunden, für einen Tag gibt er sich her. An Firmen, die einen brauchen, der Schutt wegräumt, der Fliesen buckelt, der Schränke aufbaut. Heute hat der Chef einer Umzugsfirma Wrobel gebucht, der Fahrer des schwarzen Autobusses.
Die Industrie diskutiert über Big Data, die Generation Y besetzt die Karrieresessel und fordert Work-Life-Balance, die Konjunktur boomt, der Wirtschaft wird ein Wachstum von rund zwei Prozent prognostiziert. In Wrobels Welt zählt all das nicht. Broterwerb, das ist Arbeit, wie zur Zeit der industriellen Revolution. Arbeit, oder eben keine Arbeit - darum dreht sich das Tagelöhner-Leben, daran bemisst sich, ob es ein guter Tag wird oder ein schlechter. Ob es sich gelohnt hat, mitten in der Nacht aufzustehen und nach Berlin Neukölln zu kommen, wo Wrobels Reise nach Friedrichshagen vor ein paar Tagen ihren Ursprung genommen hat.
Hoffen und Bangen eint die TagelöhnerIm Neuköllner Jobcenter, Mainzer Straße 27, Zimmer 8. Für die Tagelöhner ist Zimmer 8 "die letzte Chance, bevor man den Kopf in den Sand steckt", wie einer dort sagt. Die letzte Chance auf dem Arbeitsmarkt.
Zimmer 8 ist einer von nur vier Orten in Deutschland, an denen der Staat noch Tagelöhner wie Wrobel vermittelt. Hoffen und Bangen, Freude und Enttäuschung komponieren den Rhythmus der Zeit in diesem Raum. Ein Tisch, grauer Plastikboden, Neonröhren, weiße Wände mit blauen Sitzbänken. Hier hocken sie und warten.
Tagelöhner laufen der Arbeit hinterher. Sie wissen nie, ob sie einen Job kriegen, ob sie umsonst laufen, wenn sie ins Zimmer 8 kommen. Um 4.30 Uhr entscheidet es sich. Das Hoffen und Bangen eint zwei Gruppen, die hier morgens zusammenkommen. Junge wie der 24-jährige Wrobel, die nie richtig Anschluss gefunden haben an die Arbeitswelt. Und Alte, die Anschluss hatten, ihn aber verloren haben und keinen mehr kriegen.
Wrobel kommt aus einer großen Familie, alle Geschwister waren im Heim. Irgendwann holten die Eltern seine Geschwister nach Hause, nur ihn ließen sie zurück. Warum, weiß er nicht, kein Kontakt zu den Eltern. Er wuchs in einer Wohngruppe auf, schlug sich gut in der Schule, geriet, wie er sagt, irgendwann an die Falschen. Er sprayte, kiffte, begann Ausbildungen - Kaufmann, Bodenleger -, musste sie abbrechen, weil er "Mist gebaut" hatte. Danach bewarb er sich, aber keiner wollte ihn. Jetzt gilt er als schwer vermittelbar.
Das haben die Jungen mit den Alten in Zimmer 8 gemeinsam. Einer sagt: "Ich hab' mein Leben doch gelebt." Er ist 52 Jahre alt. Die Alten sind den Jungen eine Warnung, nicht in der Stagnation zu verharren.