Japan will fünf Urlaubstage im Jahr zur Pflicht machen. Viele Mitarbeiter halten Freizeit für anrüchig, sagt der Experte Franz-Hermann Hirlinger.
ZEIT ONLINE: Herr Hirlinger, Gewerkschaften sind ja eigentlich für Maximalforderungen bekannt. Japanische Arbeitnehmerverbände fordern gerade acht Pflichturlaubstage pro Jahr. Würden Sie da Mitglied werden?
Franz-Herrmann Hirlinger: Das ist für die Japaner viel. Verdammt viel.
ZEIT ONLINE: Ein Recht auf acht freie Tage im Jahr für einen Vollzeitbeschäftigten ist eine Maximalforderung?
Hirlinger: Ja, so kann man das formulieren. Wenn ein Mitarbeiter eines traditionellen japanischen Unternehmens mal fünf Tage Urlaub nimmt, ist das eine Ausnahme. Generell arbeiten die Japaner sehr viel und sehr lange. Zwölf bis 13 Stunden am Tag sind keine Ausnahme. Ich habe mehrmals erlebt, dass Mitarbeiter auch am Wochenende in die Firma kamen. Das musste ich ihnen erst verbieten, einer hat darauf sogar noch geantwortet: "Hirlinger San, ich habe ein Anrecht auf Arbeit!" Da habe ich gesagt: "Natürlich haben Sie das, aber nicht am Wochenende - so viel haben wir gar nicht zu tun." Das hat er kaum verstanden. Eine andere Welt!
Selige ÜberstundenDie japanische Regierung um Ministerpräsident Shinzō Abe will ein Gesetz ins Parlament einbringen, dass Arbeitnehmer verpflichtet, fünf Pflichturlaubstage zu nehmen. Die Gewerkschaften hatten acht, Unternehmerverbände nur drei Tage gefordert. Solch eine Initiative war schon seit Jahren ein Thema, nachdem die öffentliche Meinung darin übereinstimmte, dass die Kosten für die fragliche Arbeitsethik in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Produktivität zu hoch sind. Bisher hatten es Arbeitgeber hingenommen, wenn ihre Mitarbeiter ihren Urlaub verfallen ließen. Die japanische Arbeitsethik, sagt Ministerpräsident Shinzō Abe, ist "eine Kultur, die fälschlicherweise Überstunden seligspricht". (mit AP)
ZEIT ONLINE: Ist den Japanern denn Freizeit und Zeit mit der Familie nicht so wichtig?
Hirlinger: Das Berufliche ist ihnen wichtiger. Die Firmen sind auch ein Familienersatz, sind eine Lebensgemeinschaft und tun besonders viel für ihre Mitarbeiter. In Deutschland ist diese Art von Unternehmenskultur weitgehend weggebrochen.
ZEIT ONLINE: Was tun diese Firmen denn für ihre Angestellten?
Hirlinger: Sie kümmern sich um die Altersvorsorge und um die Gesundheitsversicherung. Es gehört zur Firmenkultur, dass die Mitarbeiter abends noch gemeinsam essen und trinken und auch das Wochenende miteinander verbringen, etwa beim Tennis oder im firmeneigenen Ferienhaus. Es gehört dazu, dass der Chef die Mitarbeiter zum gemeinsamen Besuch der heißen Quellen einlädt, dass die Firma den Mitarbeitern sogar ein Auslandsstudium finanziert. Sogar wenn der Sohn eines Angestellten beispielsweise Englisch in Neuseeland lernen will, zahlt das die Firma. Durch diese Kultur der Fürsorge entsteht eine große Loyalität zum Arbeitgeber. Und die Mitarbeiter wollen immer wieder neu beweisen, dass sie zu dieser Firma gehören, indem sie viel Zeit im Unternehmen verbringen.
ZEIT ONLINE: Gibt es denn so viel zu erledigen?
Hirlinger: Die Arbeit läuft nicht so konzentriert wie bei uns ab, da schauen die Kollegen oft abends noch mal eine Sportsendung im Fernsehen. Was wir in acht Stunden erledigen, schaffen die Japaner eben nur in zehn oder zwölf. Es geht vielmehr um ein Zeichen der Verbundenheit. Und wenn der Chef erst um 22 Uhr nach Hause geht, traut sich keiner der Angestellten, früher den Heimweg anzutreten. Und so ist das auch bei der Urlaubsgestaltung. Wenn kaum ein Mitarbeiter in der Abteilung Urlaub nimmt, macht man es selbst auch nicht.
ZEIT ONLINE: Stresst dieser ständige Präsenzdruck die Mitarbeiter denn nicht?
Hirlinger: Doch. Es existiert schon ein gewisser Zwang, nur in dieser Umwelt zu existieren. Hinzu kommt, dass die Arbeitswelt in Japan extrem hierarchisch geprägt ist. Fast alles hängt vom Wohl und Wehe des Chefs ab. Wenn es dann mal nicht mit einer Beförderung klappt, wenn es Streit mit ihm gibt, übt das einen enormen physischen Druck aus und führt zu Enttäuschungen und Depressionen.