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Industriekletterer: Job mit Fallhöhe

Sein „Bürostuhl", so nennt Thorsten Erhardt das schmale Brett, auf dem er sitzt - es hängt 17 Meter hoch an einer Wand. Schräg unter ihm schiebt sich der Verkehr auf der Mainzer Landstraße in die Frankfurter Innenstadt. Erhardt ist mit zwei Seilen gesichert, die er zuvor auf dem Dach des sechsstöckigen Gebäudes befestigt hat. Es regnet, der Wind zerrt an dem großen Werbeplakat, neben dem sich Erhardt gerade abseilt. Das Plakat ist der Grund, warum er und seine beiden Kollegen, die oben auf dem Dach stehen, im Einsatz sind. Sie sollen es gegen ein neues tauschen.

Industriekletterer ist die Berufsbezeichnung für den Job, den die drei Männer ausüben: Auf Türme, Fassaden und auch auf 150Meter hohe Windräder klettern, für Montagen, Reparaturen, Anstriche oder eben auch, um Werbeplakate anzubringen. Sie sind immer dann gefragt, wenn es schnell gehen soll und es sich nicht lohnt, ein Gerüst aufzubauen. Knapp ein Dutzend Firmen gibt es in der Rhein-Main-Region, meist kleine Betriebe mit wenigen Spezialisten, unter ihnen Erhardts „Kompetenz im Seil".

„Das ist mein Beruf, ihn mach ich gern"

Als Erhardt - breite Schultern, Dreitagebart, schwarzer Ohrstecker - den Boden erreicht, klinkt er die Karabinerhaken seiner Ausrüstung von den Seilen ab und blickt in den Himmel. Das Wetter macht ihm Sorgen. „Es ist sehr windig, der Regen nervt auch", sagt er und winkt den Kollegen auf dem Dach zu, damit sie loslegen. Er will fertig werden. Die beiden schwingen sich über die Dachkante und beginnen, das alte Plakat aus seiner Verankerung zu lösen. Erhardt holt derweil die neue Werbung aus dem Lieferwagen.

Thorsten Erhardt bereitet sein Sicherungsseil auf dem Dach vor, bevor er sich an der Hauswand abseilt. © Maximilian von Lachner Bilderstrecke

Seit 2006 ist der Neunundreißigjährige ein Industriekletterer, zunächst als Angestellter, zwei Jahre später machte er sich in Hofheim am Taunus selbständig. Die beiden Mitarbeiter, die ihn beim Einsatz in Frankfurt begleiten, sind die einzigen. Sie haben Elektriker und Schreiner gelernt, Erhardt ist Dachdecker. Er mag die Höhe offenbar lieber als das Gespräch darüber. „Das ist mein Beruf, ihn mach ich gern."

Industriekletterer wurden sie durch eine zwei Wochen dauernde Schulung, die jeder absolvieren muss, der hoch hinaus will. Es gibt spezielle Kletterschulen. Erhardt ist außerdem qualifiziert als „aufsichtsführender Höhenarbeiter". Er sorgt für Sicherheit und kennt die rechtlichen Bedingungen, an die sich die Kletterer zu halten haben.

Erhardt muss wieder hoch, dafür nimmt er den Aufzug, dann klettert er durch ein Bürofenster nach draußen auf das Dach. Er ist noch nicht mit Seilen gesichert und darf sich daher nur in einem bestimmten Radius in der Mitte des Dachs aufhalten. Er sagt: „Verlasse ich ihn, gefährde ich meine Zulassung."

Kleinigkeiten, die verheerend werden können

Zu den Vorgaben gehört, dass Industriekletterer nur in Teams arbeiten dürfen und ein Arbeiter immer mit zwei Seilen gesichert sein muss. Der Verband der Industriekletterer, Fisat, könnte einem Höhenarbeiter die Zertifizierung entziehen, falls er Vorschriften verletzen würde. Erhardt hat aber noch nie gehört, dass ein Kollege gesperrt wurde. „Trotz der großen Höhen gilt Industrieklettern als sehr sicher", sagt er. Dennoch gibt es Unwägbarkeiten, bei diesem Einsatz ist es vor allem das Wetter. Ein blaues Kopftuch lugt unter dem Helm hervor, gegen den Regen, denn Erhardts Helm ist sturzsicher, aber nicht wasserdicht. Wieder schaut er in den Himmel, die Wolken werden immer dunkler, der Wind frischt auf. „Windgeschwindigkeit von zwölf Metern pro Sekunde sind das absolute Limit."

Vor jedem Einsatz erstellen die Kletterer eine Gefahrenanalyse, auch das ist Vorschrift. „Wenn sie ergeben würde, dass ein Einsatz zu riskant ist, treten wir den Job nicht an", sagt der Chef. Da sei es egal, wer der Auftraggeber sei oder wie viel Geld er damit verdienen würde. In der Höhe gibt es viele Gefahrenquellen: scharfe Dachkanten, mangelnde Möglichkeiten, die Seile zu befestigen, Autos am Boden, die im Weg stehen. „Es sind Kleinigkeiten, die verheerend werden können, wenn man nicht aufpasst."

Inzwischen haben die Höhenarbeiter die alte Werbung abgehängt. Sie bauen auf dem Dach ein Flaschenzugsystem auf, mit dem das neue Plakat hochgezogen werden soll. Erhardt, der sich wieder abgeseilt hat, befestigt am Boden die Seile an dem neuen Plakat. Dann ziehen sie es mit vereinter Muskelkraft die Wand hoch, unterstützt durch eine motorbetriebene Seilwinde.

Kirchen spannender als glatte Bürohausfassaden

Zwar müsse man kein Extremsportler sein, „aber eine gewisse körperliche Fitness ist eine Grundvoraussetzung für unseren Job", sagt Erhardt. Die Ausrüstung prüfen sie vor jedem Einsatz, einmal im Jahr steht außerdem eine gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung an. Als Industriekletterer müssen sie für ihre Zertifizierung einmal im Jahr die Kenntnisse auffrischen. Einen ganzen Tag lang werden sie dann in Theorie und Praxis getestet. Erhardt berichtet: „Ein besonderes Augenmerk liegt darauf, wie wir unsere Kollegen aus brenzligen Lagen retten könnten, wenn es darauf ankäme."

Die Arbeiten an der Mainzer Landstraße sind Routine für die drei Männer. Nach zwei Stunden hängt das Plakat an seinem Platz, jetzt müssen sie es nur noch festmachen. Der Wind hat etwas nachgelassen, sogar die Sonne lässt sich blicken. Der nächste Auftrag, am nächsten Tag, ist deutlich ungewöhnlicher: Sie sollen am Frankfurter Flughafen in einem Terminal die Lichter auswechseln. Um den Flugbetrieb nicht zu stören, können sie nur nachts arbeiten und brauchen eine spezielle Sicherheitsschulung. Erhardt sagt: „Jeder Auftrag ist anders."

Eine Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ist bei den drei Industriekletterern besonders beliebt. Regelmäßig hängen sie für deren Aktionen Banner auf. Dann dürfen sie innerhalb von zwei Wochen auf rund 170 Kirchen und Kirchtürme klettern. Die finden sie zum Klettern viel spannender als glatte Bürohausfassaden.

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