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Ringen um den Platz im Bundesbüchlein | NZZ

Der Bundesrat will das Abstimmungsbüchlein neu gestalten. Und rückt damit ein delikates Thema in den Fokus: Wie viel darf und muss die Regierung vor Abstimmungen informieren - und wie viel Raum sollen ihre Gegner bekommen?

Wer vor der Abstimmung über die Rentenreform einen Blick in das Abstimmungsbüchlein warf, konnte leicht verwirrt sein. Als Gegner der Reform zu Wort kam einzig das Linksaussen-Komitee aus der Westschweiz, welches das Referendum gegen das Gesetz ergriffen hatte. Dabei waren die gewichtigsten Gegner im Abstimmungskampf die bürgerlichen Parteien SVP und FDP, während die Führung der SP intensiv für ein Ja weibelte. Die Kritik an den zusätzlichen 70 Franken AHV für Neurentner suchte man in den Abstimmungserläuterungen der Regierung vergeblich. Laut Nachbefragung überzeugte aber gerade dieses Argument die meisten Stimmbürger von einem Nein.

Immerhin könnten solche konfusen Situationen bald der Vergangenheit angehören. Der Bundesrat hat sich bereit erklärt, zu prüfen, ob bei obligatorischen Referenden parlamentarische Minderheiten ebenfalls Platz im Bundesbüchlein erhalten sollen. Er empfahl ein entsprechendes Postulat des Zürcher SVP-Nationalrats Mauro Tuena im April zur Annahme. Zwei Jahre hat die Regierung nun Zeit, um dem Prüfauftrag des Postulats nachzukommen, etwa in Form eines Berichts.

Unabhängig von dem Vorstoss arbeitet die Bundeskanzlei bereits seit längerem an einem Projekt zur Neugestaltung des Abstimmungsbüchleins. Voraussichtlich bis Ende Jahr wird der Bundesrat darüber entscheiden. Gemäss Auskunft der Bundeskanzlei geht es vor allem um eine attraktivere Aufmachung und bessere Leseführung. Läuft alles nach Plan, werden die Stimmberechtigten die neuen Erläuterungen vor der Abstimmung im September 2018 zum ersten Mal im Briefkasten vorfinden.

Die Abstimmungserläuterungen bleiben auch im digitalen Zeitalter eine Konstante der schweizerischen Demokratie: Vor jeder Abstimmung verschickt die Bundeskanzlei je ein gedrucktes Exemplar an sämtliche 5,4 Millionen Stimmbürger. Konstant ist auch die hohe Popularität des Büchleins: In Umfragen geben regelmässig gegen 90 Prozent der Stimmenden an, die Erläuterungen des Bundesrats als Informationsquelle zu nutzen.

Exekutives Übergewicht

Im Rahmen der Neugestaltung wird der Bundesrat auch ein delikates Thema anschneiden: die Platzverteilung im Abstimmungsbüchlein. Heute hat nach einer Einführung in die Materie jeweils das Referendumskomitee beziehungsweise das Initiativkomitee eine Seite Platz, seine Argumente darzulegen. Anschliessend präsentiert der Bundesrat auf zwei bis zweieinhalb Seiten seine Position.

Das exekutive Übergewicht wird gemeinhin damit begründet, dass sich der Bundesrat im Abstimmungskampf zurückzuhalten hat. Gemäss dem Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) ist er lediglich verpflichtet, Informationen zu vermitteln. Damit steht das Abstimmungsbüchlein in engem Zusammenhang mit dem Verhalten der Behörden vor Abstimmungen im Allgemeinen.

Abstimmungsinformationen via App

Parallel zur Neugestaltung des Abstimmungsbüchleins beschäftigt sich die Bundeskanzlei auch mit der Digitalisierung der Abstimmungserläuterungen. Heute bietet der Bund lediglich eine PDF-Version des gedruckten Abstimmungsbüchleins auf seiner Website zum Download an. Da immer mehr Stimmbürger digital unterwegs seien, prüfe man, diesen Kanal ebenfalls attraktiver zu gestalten, sagt René Lenzin von der Bundeskanzlei. Eine Möglichkeit wäre, die Abstimmungserläuterungen in Form einer App zu verbreiten. "Interessant daran wäre, dass man die Oberfläche auch für Informationen über kantonale Abstimmungen und für die Kommunikation von Abstimmungsresultaten verwenden könnte." Das Projekt steht in Zusammenhang mit grundsätzlichen Überlegungen zur Digitalisierung der politischen Rechte: Darunter fällt auch der verstärkte Einsatz von E-Voting bei Abstimmungen, den der Bundesrat plant.

In der jüngeren Vergangenheit haben Bundesräte das Recht beziehungsweise die Pflicht zur Information vor Abstimmungen wiederholt ziemlich grosszügig ausgelegt. So tingelte Innenminister Alain Berset vor der Abstimmung über die Rentenreform von Podium zu Podium, hielt Reden, war in den Medien omnipräsent und warb auch in den sozialen Netzwerken für die Vorlage.

Andrea Töndury, Privatdozent für öffentliches Recht an der Universität Zürich, hält ein solches Verhalten angesichts des bundesrätlichen Übergewichts im Bundesbüchlein für heikel. "Je mehr sich die Regierung aktiv im Abstimmungskampf einbringt, desto mehr bricht die argumentative Grundlage für ein Platzungleichgewicht im Abstimmungsbüchlein weg", sagt er. Er hält es daher für angebracht, "gleich lange Spiesse" für die Behörden wie für die Gegenseite zu schaffen. Töndury verweist auf die Beispiele verschiedener Kantone, die eine auch platzmässig ausgewogene Berücksichtigung beider Seiten in den Abstimmungserläuterungen gewährleisten, so etwa der Aargau oder die Waadt.

Offenere Bestimmungen

Eine rechtliche Pflicht zu "gleich langen Spiessen" besteht derzeit nicht. Zwar verlangt die Bundesverfassung "die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe" für die Bürger. Zudem fordert das BPR vom Bundesrat, vor Abstimmungen nach den Grundsätzen der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit zu informieren.

Wann diese Vorgaben erfüllt sind und wann nicht, ist allerdings nicht einfach festzustellen. "Die rechtlichen Bestimmungen sind relativ offen formuliert", stellt Andreas Glaser, Professor für öffentliches Recht und Leiter des Zentrums für Demokratie Aarau, fest. Es gibt kein Recht für die Gegenseite, in den Abstimmungserläuterungen selbst zu Wort zu kommen; die Regierung muss nur sicherstellen, dass ihre Argumente in der Publikation ausreichend berücksichtigt werden.

Hinzu kommt, dass die Abstimmungserläuterungen des Bundesrats juristisch nicht direkt anfechtbar sind, sondern nur die Abstimmung selber. Als das Bundesgericht 2011 die Erläuterungen des Bundesrats vor der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II rügte - es ging um den Umfang der Steuerausfälle -, bezog es sich nicht auf das Abstimmungsbüchlein an sich, sondern auf die Informationslage insgesamt. Diese sei ungenügend gewesen, urteilten die Richter und sahen die Abstimmungsfreiheit verletzt, verzichteten aber darauf, eine Wiederholung der Abstimmung anzuordnen.

Die behördliche Kommunikation vor Abstimmungen sei nicht primär eine juristische, sondern eine politische Angelegenheit, sagt Glaser. "Die Stimmbürger haben die Möglichkeit, unfaires oder einseitiges Verhalten der Regierung im Abstimmungskampf an der Urne zu sanktionieren." Andrea Töndury betont, die Stimmbürger müssten dem Bundesrat vertrauen können, dass er sie korrekt und vollständig informiere. Gerade deshalb sei es wichtig, dass die Regierung im Abstimmungskampf die nötige Zurückhaltung übe. "Sonst kann die Legitimität demokratischer Entscheide gefährdet sein."

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