Auf ihre Zähne angesprochen zu werden, war für Jaqueline (minusgold auf Social Media) lange Zeit Auslöser für Scham. Eine Zahnspange konnte sich ihre Familie nie leisten. Heute machen sie Kommentare zu ihren Zähnen nur noch wütend, denn viele vergessen: Normschön sein hat vor allem mit Privilegien zu tun.
Was als "(norm-)schön" gilt, bestimmt seit jeher die Gesellschaft. Wer dazugehören will, hat entweder Glück in der Gen-Lotterie – oder eben Geld. Für viele ist es selbstverständlich, sich eine Zahnfehlstellung mithilfe kostspieliger Spangen und Behandlungen richten zu lassen. Für Jaqueline Scheiber (@minusgold) war es das nicht, denn das Geld in ihrer Familie war knapp. Bis heute hat sie mit der Stigmatisierung aufgrund äußerer Merkmale zu kämpfen.
In einem Instagram-Post machte die Sozialarbeiterin und Autorin kürzlich auf die Thematik aufmerksam. Als minusgold berührt Jaqueline mittlerweile rund 32.000 Follower*innen mit ihren persönlichen und berührenden Posts rund um Themen wie mentale Gesundheit, Trauer, Liebe, Loslassen oder Körperwahrnehmung.
Wir haben mit Jaqueline über den Zusammenhang von (Norm-)Schönheit und sozialer Herkunft gesprochen.
WIENERIN: Wie oft wirst du auf deine Zähne angesprochen?
Jaqueline Scheiber: In echten Begegnungen mittlerweile seltener, aber auf Social Media kommt das immer noch häufig vor. Vor allem auf Instagram bekomme ich regelmäßig Kommentare zu meinen Zähnen und werde gefragt, warum ich denn keine Zahnspange hatte. Ich glaube, dass es für viele einfach kein Thema ist. Ich vermute, dass die meisten Leute davon ausgehen, dass es zum Aufwachsen dazugehört, dass man sich seine schiefe Zahnstellung richten lässt, wenn man eine hat.
Was lösen solche Fragen und Kommentare in dir aus?
Mittlerweile Wut. Es regt mich auf, weil ich nicht verstehe, wie man heutzutage Menschen auf ihre äußerlichen Attribute ansprechen kann, ohne zu reflektieren, was das auslöst, welche Traumata damit verbunden sind, welche Herkunft damit verbunden ist. Immer, wenn mich Leute wie selbstverständlich auf äußerliche Attribute aufmerksam machen, triggert mich das total. Es ist einfach an der Zeit, dass Leute endlich aufhören, Menschen auf Äußerlichkeiten anzusprechen, für die sie nichts können.
Du sagst, mittlerweile machen dich Kommentare zu deinen Zähnen wütend – was haben sie früher mit dir gemacht?
Früher hat es in mir eine Art Rückzug ausgelöst. Ich dachte, das ist etwas, wofür ich mich schämen und verstecken muss. Ich komme aus einer einkommensschwachen Familie. Es hat finanziell an allen Ecken und Enden gefehlt. Das heißt, es war für meine Mutter mit drei Jobs gleichzeitig bereits eine große Herausforderung, die täglichen Ausgaben in irgendeiner Form zu stemmen. Im Vordergrund stand, dass ich Schulsachen hatte und eine gute Schulbildung genießen konnte. Eine teil- oder ganz privatfinanzierte Zahnkorrektur war realistisch einfach überhaupt nicht drinnen.
Inwiefern hat sich das auf dein Selbstbewusstsein ausgewirkt?
Vor allem habe ich mein "Anderssein" in meinem Aufwachsen zu spüren bekommen. Dadurch, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte, war ich eher von Kindern und Jugendlichen umgeben, die sozial besser gestellt waren. Dass wir weniger hatten, hat man mir sofort angesehen, das hat sich in meinem äußeren Erscheinungsbild abgezeichnet. Etwa darin, dass in meiner Klasse fast alle eine Zahnspange trugen – ich war eine der wenigen, die keine hatten. Lange Zeit habe ich nicht mit offenem Mund gelacht oder auf Fotos gelächelt. Ich habe mich auch lange nicht getraut, öffentlich zu sprechen. Dazu kam, dass ich früher auch noch dicker war, weshalb ich oft dachte, "Okay, du fällst irgendwie durch alle Raster".
Wie hast du es geschafft, diese Ängste abzulegen? Hast du es geschafft?
Ich glaube, das ist ein täglicher Prozess. Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich mich unsicherer fühle und dann gibt es Zeiten, in denen ich selbstsicherer bin. Grundsätzlich finde ich einfach, dass das kein Thema sein sollte. Ich finde, gerade Frauen sollten nicht immer für ihr Äußeres thematisiert werden. Und wenn wir schon äußere Merkmale ansprechen, dann denken wir doch bitte an die Hintergründe. Überlegen wir doch vorher, woher etwas kommen könnte und nehmen nicht selbstverständlich an, dass jemand einfach nicht so gesegnet war, wie man es vielleicht selbst war. Ziehen wir in Betracht, dass es einen sozioökonomischen Hintergrund gibt.
Würdest du dir die Zähne richten lassen? Oder hättest du ein "schlechtes Gewissen", dich einem System zu beugen, das Menschen, die nicht der Schönheitsnorm entsprechen und/oder sozioökonomisch schlechter gestellt sind, benachteiligt?
Mittlerweile bin ich in einer privilegierteren Position als meine Familie es früher je war, dadurch schließe ich es nicht aus, irgendwann mal das Geld zusammennehmen und zu sagen, ich investiere jetzt in dieses äußere Merkmal, weil mir das wichtig ist. Ich glaube, ich hätte nicht unbedingt ein schlechtes Gewissen. Natürlich ist es in unserer Gesellschaft gewissermaßen ein rebellischer Akt, keine perfekten Zähne zu haben. Bei mir stellt sich nur die Frage, ob es gesundheitliche Folgen für meinen Kiefer haben wird, wenn ich es nicht irgendwann richten lasse. Aus rein ästhetischen Gründen würde ich es nicht machen.
Was würdest du dir im Umgang mit Äußerlichkeiten von unserer Gesellschaft wünschen?
So viele übersehen, dass zwischen Schönheitsnorm und Einkommenssituation eine ganz markante Verbindung besteht. Ich hoffe, dass Leute mit der Zeit ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, die in ihrer Lebenssituation benachteiligt sind, an der Armutsgrenze leben und kein ästhetisches Erscheinungsbild repräsentieren, sich viele Dinge einfach nicht leisten können. Es gibt viele Studien dazu, dass Menschen, die ärmer sind auch eine kürzere Lebensdauer haben und krankheitsanfälliger sind. Das Gesundheitssystem ist nun mal nicht für alle gleich zugänglich. Ich finde es wichtig, dass wir dahingehend alle ein kritisches Denken entwickeln - und das auch endlich in der "Wohlfühl-Bubble" ankommt.
Zum Original