zenith: Im vergangenen Jahr hat Armenien enorme politische Veränderungen erlebt. Wie wirkt sich der interne Wandel auf Armeniens Außenpolitik aus?
Anahit Shirinyan: Der wichtigste Effekt ist Armeniens gewachsener Spielraum für souveräne Entscheidungen – auch wenn es nach wie vor Grenzen gibt. Grund hierfür ist, dass die neue Regierung ihre Legitimität ausschließlich aus der heimischen Wählerschaft ableitet. Diese innere Legitimität hat vergangenen Administrationen gefehlt. Das hat dazu geführt, dass sie die Unterstützung externer Akteure suchten, um an der Macht zu bleiben. Und das hatte seinen Preis – oft wurden armenische Schlüsselinteressen kompromittiert. Legitimität ist die Voraussetzung für eine durchsetzungsfähigere Außenpolitik.
Das Parlament ist nach der Wahl im Dezember praktisch komplett neu besetzt, viele Abgeordnete sind politische Neulinge. Was wird sich dadurch ändern?
In Armenien ist nun eine neue Generation von Politikern an der Macht. Die meisten von ihnen sind nicht einmal mehr postsowjetisch, sie sind nicht-sowjetisch. Sie denken und handeln anders. Und auch wenn die Regierung Kontinuität in der Außenpolitik versprochen hat, wird sich diese Neuerung unvermeidlich darauf auswirken, wie Außenpolitik gemacht wird.
Wie Sie bereits angedeutet haben, befindet sich Armenien nach wie vor im Spagat zwischen Großmächten. Präsident Nikol Paschinjan scheint nun engere Beziehungen zu Europa anzustreben – kann aber gleichzeitig auch die Nähe zu Russland nicht aufgeben. Kann solch ein Balanceakt gutgehen?
Mit Russland die Balance zu finden, ist ein hartes Geschäft. Die Asymmetrie in den Beziehungen ist groß und Armenien muss umsichtig und strategisch handeln. Das Land wollte sich nie zwischen dem Westen und Russland entscheiden – dieses Dilemma ist für Armenien irrelevant. Die geostrategische Division besteht jedoch und sie hemmt nach wie vor Armeniens Spielraum. Ich denke, es gibt durchaus ein Verständnis dafür, dass Armenien seine übermäßige Abhängigkeit von Russland ausgleichen muss – unabhängig vom westlichen Faktor.
Wie versucht die neue Regierung das konkret?
Beispielsweise hat Armenien seit der Revolution eine selbstbewusstere Position in der von Russland geführten »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (OVKS) eingenommen. Außerdem hat das Land im Zusammenhang mit der Festnahme von Ex-Präsident Robert Kotscharjan, einem Putin-Verbündeten, russischen Versuchen der Einflussnahme auf interne Angelegenheiten widerstanden. Gleichzeitig hat die Regierung eingewilligt, einige Minenräumer nach Syrien zu entsenden, in den russischen Einflussbereich. Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass Armenien sich verpflichtet sieht, humanitäre Hilfe für das krisengeschüttelte Syrien zu leisten, das zu Zeiten des Genozids 1915 den fliehenden Armeniern einen sicheren Hafen bot – sodass dort bis heute eine beträchtliche ethnisch-armenische Gemeinschaft lebt. Gleichzeitig wollte man Moskau beschwichtigen, dem Armeniens Unabhängigkeitsbestrebungen zunehmend schwer im Magen liegen.
Und wie realistisch ist die Annäherung an Europa?
Ich sehe hier eine Kluft zwischen Erwartungen und Möglichkeiten. Jerewan will ganz klar engere Verbindungen zum Westen als zuvor, aber ohne Russland zu verärgern. Gleichzeitig ist die EU mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, wie dem Brexit und Unsicherheiten im transatlantischen Bündnis. Der Westen zeigt sich enthusiastisch über Armeniens Transformation – weil sie aber so unerwartet kam, besteht wenig Bereitschaft, sich mit Armenien in einer Weise zu beschäftigen, wie mit dem postrevolutionären Georgien oder der Ukraine. Der entscheidende Faktor dabei ist meines Erachtens jedoch die unausgesprochene Wahrheit, dass Armenien den demokratischen Ehrgeiz, aber nicht den geostrategischen Wandel in Richtung Westen mitbringt, anders als die Revolutionen in Georgien und der Ukraine. Wie lässt man sich auf eine Demokratie ein, die in Russlands Einflussbereich bleibt? Gleichzeitig haben die meisten westlichen Akteure, vor allem in der EU, nicht unbedingt ein Interesse daran, dass Armenien Probleme mit Russland bekommt. Ein Dilemma also, dass der Westen und Armenien angehen müssen.
Wie beurteilen Sie die Versuche, sich verstärkt an Iran zu wenden?
Iran bietet Armenien ein ungenutztes Potenzial, es ist ein stiller, aber entscheidender Akteur in der Region. In seinem Bestreben, sich an Iran anzunähern, ebenso wie an Georgien, versucht Armenien, der geostrategischen Klemme des West-Russland Dilemmas zu entkommen. Ich denke, Armenien betrachtet Iran jetzt als eine Möglichkeit, Russland in Bezug auf Energie- und Sicherheitsfragen auszugleichen. Die Wiedereinführung von Sanktionen gegen Iran durch Washington ist für Armenien bedauerlich. Jetzt muss Jerewan wieder zwischen Washington und Teheran abwägen, aber die USA sind weit weg und Iran ist nebenan. Man kann davon ausgehen, dass sich Armenien nicht den Bemühungen Washingtons anschließen wird, Iran einzuhegen.
Zentraler Faktor in der armenischen Politik ist immer auch die Sicherheit des Landes, vor allem im Hinblick auf Aserbaidschan. Was ist hier die Strategie der neuen Regierung?
Das Sicherheitsdenken hat sich in den letzten Jahren in Armenien sehr verändert, insbesondere nach dem Krieg im April 2016 in Berg-Karabach. Russland bleibt ein wichtiger Waffenlieferant für Armenien, da das Wettrüsten mit Aserbaidschan anhält. Es gibt jedoch eine Vertrauenskrise in den armenisch-russischen Beziehungen, seit Moskau versucht hat, das Sicherheitsdilemma Armeniens auszunutzen, um die Souveränität des Landes einzuschränken. Es besteht die Erkenntnis, dass sich Armenien in Sicherheitsfragen letztlich nur auf sich selbst verlassen kann. Und die neue Regierung versucht nicht nur, militärische Kapazitäten aufzubauen, sondern auch die politische Schlagkraft des Landes zu stärken, die zur Abschreckung von Krieg beitragen kann. Armenien ist angesichts des Konflikts um Berg-Karabach ein wichtiger Sicherheitsakteur, der einen Krieg in der Region verhindert: Ein Niedergang in der Sicherheits- und Verteidigungsposition Armeniens würde bedeuten, dass die Region in einen Krieg abrutscht.
Die Verhandlungen mit Aserbaidschan über Berg-Karabach scheinen für Paschinjan hohe Priorität zu haben. Kann er etwas an der verfahrenen Situation bewegen?
Grundsätzlich kann der Friedensprozess über Berg-Karabach nicht höchste Priorität für Paschinjan haben, denn er sieht sich zuhause mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert. Es gibt enorme Erwartungen an seine Regierung, sofortige Ergebnisse in Bezug auf Reformen und wirtschaftliche Entwicklung zu liefern. Er hat also viel um die Ohren. Die Ironie ist gleichzeitig, dass es trotzdem Paschinjan ist, der versucht, Schwung in die in den Friedensprozess zu bringen. Er ficht die grundsätzlichen Modalitäten der Verhandlungen an und seine freimütige Herangehensweise passt nicht zu den traditionell undurchsichtigen Merkmalen der Gespräche.
Wie das?
Zum einen fordert Paschinjan, Berg-Karabach selbst wieder an den Verhandlungstisch zurückzuholen, wie es während der 1990er die meiste Zeit der Fall war. Zum anderen betont er, dass eine Lösung für alle drei Gesellschaften akzeptabel sein soll – Armenier, Karabacher und Aserbaidschaner. Das scheint vielleicht banal, ist aber eine neue Art der Rhetorik im Kontext dieses Konflikts. Schließlich prangert er die Mehrdeutigkeit der Madrider Prinzipien an, die seit über zehn Jahren als Verhandlungsgrundlage dienen. Diese Mehrdeutigkeit wurde von der internationalen Gemeinschaft als »konstruktiv« gewertet – in der Annahme, sie würde eine Kompromisslösung ermöglichen. In der Praxis erlaubt sie es jedoch jeder Seite, die Prinzipien anders zu interpretieren, ohne den Versuch eines Kompromisses. Der armenische Ansatz fordert die OSZE-Minsk-Gruppe gewissermaßen dazu heraus, ihre Komfortzone zu verlassen.
Sind Sie optimistisch in Bezug auf die weitere Entwicklung des Konflikts?
Was man sieht, ist der Versuch, vom Nullsummenspiel in einen Dialogmodus zu wechseln. Es bleibt die Frage, ob der erneuerte Prozess wirklich im Sinne einer Lösung des Konflikts ist – oder wieder nur ein Spiel auf Zeit, während sich die Parteien auf den nächsten, noch verheerenderen Krieg vorbereiten. Außerdem steht im Raum, was Aserbaidschan eigentlich zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes beitragen kann. Erwartet wird, dass auch Aserbaidschan etwas Konstruktives an den Verhandlungstisch bringt, wie etwa die Anerkennung des Rechts von Berg-Karabach auf Selbstbestimmung, wie es auch die Madrider Prinzipen implizieren. Es ist unrealistisch zu glauben, dass Armenien allein etwas bewirken kann. Erst wenn es den politischen Willen zur Beilegung des Konfliktes gibt, wird sich das in gesündere gesellschaftliche Narrative und öffentliche Diskurse übersetzen – in allen drei Gesellschaften. Bevor das passiert ist, sehe ich keinen Grund für Optimismus.
Anahit Shirinyan ist Polit-Analystin aus Jerewan. Sie arbeitete bereits u.a. für das »Chatham House« und veröffentlichte Beiträge in wissenschafltichen Zeitschriften wie dem »Journal of Conflict Transformation«. Ihr Hauptfokus liegt auf Armenien und internationalen Beziehungen rund um den Südkaukasus.
Zum Original