zenith: Youssef Chahines erster Film "Baba Amin" kam 1950 in die Kinos. Wie hat er es geschafft, sich den Enthusiasmus seines Publikums auch 60 Jahre später noch zu erhalten?
Marianne Khoury: Ich denke, Chahine war mehr als nur ein Filmemacher. Er hatte eine besondere Beziehung zum Kino, zu seinem Land, zur arabischen Welt. Gerade die junge Generation ist an seinen Filmen interessiert, denn er hatte eine laute Stimme und traute sich, Dinge auszusprechen. Das ist jenseits von einfach guten Filmen: Sogar seine schlechten hatten eine Wirkung (lacht).
Alia Ayman: Für mich ist Chahine eine persönliche Motivation: Er ist einer der Gründe, warum ich im Filmgeschäft bin. Es hat mir gefallen, dass er nicht dem entspricht, was zu seiner Zeit im Kino üblich war, dass er rebelliert hat.
MK: Es gibt eine sehr spezifische "chahinianische" Partikularität in seiner Art zu filmen: Wie er das Bild einfasst, die Bewegungen seiner Kamera, wie die Personen agieren. Es reicht, eine Aufnahme aus einem seiner Filme zu sehen, um zu wissen, dass es Chahine ist. Hinzu kommt, dass er durch seine Filme die Gesellschaft als Ganzes portraitiert. Da ist mehr als nur Film in seinen Filmen: Man findet eine Geschichte, eine historische Epoche, eine politische Ära, eine persönliche Perspektive...
AA: Menschen kannten und kennen seine Arbeiten in einem Ausmaß, das keine unabhängige Produktion heute erreicht. Die Filmmusik wird im Radio gespielt, die Worte der Dialoge werden als Referenzen in der Populärkultur verwendet - heute passiert es sehr selten, dass sich Menschen so mit einem Film verbinden.
MK: Als Chahine anfing, sich selbst in Frage zu stellen, in dieser Phase autobiografischen Schaffens, drehte er den Film "Alexandria ... warum?". Das war eine ganz zentrale Frage für ihn. Alexandria war der prägende Kontext, in dem er aufwuchs: Es war die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Alexandria eine sehr kosmopolitische Stadt. Chahine hat einen multikulturellen Hintergrund, seine Mutter war Griechin, sein Vater Libanese - all das inspirierte ihn.
MK: Für Chahine waren Kunst und Politik untrennbar. Alles war politisch, selbst ein Kuss war für ihn Politik. Seine Werke müssen immer im Kontext gesehen werden, vom lokalen bis zum geopolitischen. Alles war für ihn miteinander verbunden. Chahine machte sicher keine "Kunst für die Kunst". Aber gleichzeitig war seine Arbeit sehr künstlerisch.
MK: Tatsächlich war es nicht so einfach, mit Chahine zu arbeiten. Als ich bei ihm anfing, ging es nicht um kreative Aspekte, sondern um Dinge wie Fundraising und das Finden von Vertriebspartnern. Was den kreativen Part angeht, war er ein bisschen empfindlich. Immer gab es energische Vorbereitungen, keine Improvisation, jedes Detail wurde schriftlich festgehalten. Vor dem Dreh hatte er alles aufgemalt, er wusste, wann die Sonne auf- und untergeht, wo genau die Kamera stehen würde, er nahm die Maße des Sets. Aber ich war natürlich neugierig und lernte auch, wie man einen Film dreht, was ein Skript ist. Nach zehn Jahren wurde mir dann klar, dass ich auch selbst kreativ werden wollte.
AA: Ich denke, er war ein sehr guter Produzent - weil er es schaffte, die Welt auf den Kopf zu stellen, um Filme genau so zu machen, wie er es sich vorstellte. Gleichzeitig hatte er auch Glück: Nicht viele aus seiner Generation hatten die Chance, das gleiche zu tun.
MK: Er war furchtbar ... man sagt, er hätte seine eigene Mutter verkauft, um Filme drehen zu können (lacht). Er hielt die Kamera unter seinem Bett, niemand hatte die Erlaubnis, sie zu berühren. Es war das wichtigste in seinem Leben. Die Art, wie er mit seiner Kamera umgeht, ist unglaublich. Er pflegte zu sagen, dass er eine physische Beziehung zu seiner Kamera hatte.
"Es gibt bestimmte Erwartungen, wie ein arabischer Film auszusehen hat"
AA: Die Lage ist kompliziert: Ägypten hat auf der einen Seite eine etablierte Filmindustrie, die kommerzielle Blockbuster produziert. Diese folgen einer bestimmten Formel und werden so zum Erfolg. Aber kleinere, unabhängige Produktionen - Filme, die normalerweise auf Festivals laufen und internationale Anerkennung bekommen - werden viel weniger innerhalb Ägyptens gesehen. Es ist notwendig, eine Infrastruktur, einen Markt aufzubauen, auf dessen Basis wir arbeiten können. Deshalb haben wir 2014 "Zawya" gegründet, der erste Arthouse-Kino Ägyptens. Wir wollen einen Ort in Ägypten schaffen, an dem unabhängige ägyptische Filme gesehen werden können.
MK: Immer mehr junge Menschen haben sich an den kommerziellen ägyptischen Filmen satt gesehen. Aber es wird harte Arbeit, ein Publikum für unabhängige Filme aufzubauen. Wir haben sehr wenige Geldmittel, das Kulturministerium unterstützt uns nicht ... wir sind schon zufrieden, wenn die Behörden nicht in unsere Arbeit eingreifen (lacht).
AA: Ich denke, Einschränkungen kommen von überall, nicht nur seitens des Staates. Es gibt bestimmte Erwartungen, wie ein arabischer Film auszusehen hat. Und die kommen nicht vom Staat, sondern vom internationalen Publikum - denn das meiste Geld kommt aus europäischen Quellen. In den Ausschreibungen heißt es dann "politisch relevant", man verlangt, dass wir uns mit Konflikten oder mit Ägyptens politischer Situation befassen. Und das setzt uns unter Druck. Wenn wir wollen, dass unsere Filme Aufmerksamkeit bekommen, sind wir nicht wirklich frei in der Wahl der Themen. Das ist für Filmemacher in anderen Teilen der Welt ganz anders.
MK: Dem würde ich noch eine andere Zensur hinzufügen, die Selbstzensur. Damit meine ich die Angst etwa wie sozialen Tabus oder politischem Druck. Manche von Chahines Filmen, die in den Fünfzigern oder Sechzigern gedreht wurden, könnten heute wohl nicht mehr vor der staatlichen Zensur bestehen.
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Das Kino Arsenal in Berlin zeigt bis 30. März in "Youssef Chahine Again and Forever - Eine Retrospektive" eine Auswahl seiner Filme. Zum Original