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Kommentar: Wir werden nicht ärmer

Armut triggert die Abstiegsangst vieler Deutscher. Dabei betrifft es die meisten überhaupt nicht. Aber ohne Angst würde die Leistungsgesellschaft nicht laufen.


Armut ist in Deutschland bekanntlich eine wirklich unbeliebte Prognose. Und trotzdem hörte man sie in den vergangenen Wochen erstaunlich häufig.

" Wir werden ärmer", sagte Vizekanzler Robert Habeck, Grüne, in einem Interview mit dem ZDF heute-journal. "Der Krieg macht uns alle ärmer", sagte Finanzminister Christian Lindner, FDP, in der Bild am Sonntag. " Wir haben wahrscheinlich den Höhepunkt unseres Wohlstands hinter uns", sagte CDU-Chef Friedrich Merz. Womit er die Hiobsbotschaft zumindest adäquat seiner Zielgruppe anpasste.

Denn natürlich werden die meisten Menschen in Deutschland nicht ärmer, sondern nur weniger reich. Natürlich muss der Großteil nicht darum fürchten, im Supermarkt auf die Lieblingsnascherei verzichten zu müssen. Habeck hätte also auch sagen können: Wir verdienen gleich viel, müssen davon aber mehr ausgeben und können deswegen weniger in nachhaltige ETFs anlegen. Schlicht hätte es heißen können: Wir werden jetzt für eine Weile nicht mehr reicher.

Vier Euro pro Tag für Essen

Denn wir meint das politische Publikum, die Mittel- und Oberschicht, die um ihre Biomarktgewohnheiten fürchten, die ihr Geld nicht mehr weiter vermehren können, die sich um ihren gewohnten Wohlstand sorgen. Diese Ängste sind selbstverständlich nicht weniger wichtig. Sie sind auch sicher ein großes Problem, das es ernst zu nehmen gilt, aber sie haben mit Armut wenig zu tun. Arm ist, wer als Single-Haushalt weniger als 892 Euro zur Verfügung hat. Das betrifft aktuell gut 13 Millionen Menschen. Was natürlich viel zu viel ist, aber eben doch zu wenig für ein kollektives Wir.

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Aber wer arm ist, verfolgt sowieso keine Habeck-Reden. Menschen, die wirklich von Armut betroffen sind, sind nämlich schwer damit beschäftigt, arm zu sein. Hartz-IV-Empfänger:innen können mit ihrem Regelsatz von 449 Euro monatlich nicht mehr als vier Euro täglich für Essen ausgeben. Vielen Rentner:innen geht es ähnlich. Eine Salatgurke kostet bei Rewe aktuell zwei Euro und 17 Cent. Der Hartz-IV-Satz wurde trotzdem nur um drei Euro im Monat erhöht. Da scheint es nur logisch, wie Habeck in einem Insta-Posting schrieb, Energie zu sparen (er schrieb natürlich wir). Immerhin haben sie dabei Glück, denn ihr unwürdiger Lebensstil erfüllt zumindest zufällig einige der Habeckschen Solidaritätskriterien von ganz allein.

Armut funktioniert auf politischen Bühnen immer als Drohung und nicht als eine anerkannte Lebensrealität. Was aus politischer Sicht Sinn ergibt, wenn die, deren Lebensrealität aus Armut besteht, sowieso kaum noch wählen gehen, weil sie sich von den Habecks, Lindners und Merzes der Volksvertretung nicht gesehen fühlen. Keine gesellschaftliche Gruppe hat so viele Nichtwähler wie Langzeitarbeitslose. In armen Gegenden Deutschlands wählte 2017 nicht einmal mehr die Hälfte.

Arm werden ist in Deutschland ein Trigger

Den einzigen Nutzen, den sie damit für die Politik noch haben, ist der der Abschreckung. Warum also mit ihnen reden, statt einfach mit ihrer Lebensrealität zu drohen? Die Angst vor Armut hat in unserer auf Wohlstand ausgerichteten Gesellschaft politische Strategie. Arm werden ist in Deutschland ein Trigger, ein Alarmsignal, ein Garant dafür, dass ihm jetzt wirklich einmal alle zuhören.

Angst vor Armut zeigt zum Beispiel, warum es noch immer Hartz IV gibt und warum trotz steigender Inflation, steigender Mieten, steigender Benzinpreise, steigender Bahnpreise an einem System festgehalten wird, das ganz offensichtlich noch nie ein würdiges Leben ermöglicht hat.

Dass unsere Tüchtigkeit nicht mehr zwingend viel mit Leidenschaft, sondern sehr viel mit Abstiegsangst zu tun hat. Dass fast niemand einen schlecht bezahlten oder sinnlosen Job kündigen würde, weil schlimmer als ein sinnloser Job immer ein Gang zum Jobcenter ist. Dass wir das Narrativ dieser Arbeitslosigkeitshölle brauchen, um uns täglich zu absurden Tätigkeiten aufzuraffen. Und dass wir jetzt, wo wir tüchtig sind und trotzdem weniger davon kaufen können, panisch werden. Oder zumindest Politiker, die sich auf dieser Angst vor Armut seit Jahrzehnten ausruhen.

Denn ohne die Angst vor einem unwürdigen Leben mit Hartz IV gäbe es keine Abstiegsangst und ohne Abstiegsangst gäbe es keine Tüchtigkeit und ohne Tüchtigkeit würde Robert Habeck jetzt vielleicht nicht als Vizekanzler an einem Rednerpult stehen und darüber reden, dass dieses ausgeklügelte System droht zu zerbrechen, weil man, Pardon: wir uns jetzt trotz Tüchtigkeit und Arbeitsplatz vielleicht nicht mehr alles leisten können. Zumindest nicht mehr alles, was wir in unserem wohlständigen Alltag zur Lebensnotwendigkeit erklärt haben.

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