das neue Jahr steht vor der Tür. Aber für mich spielt es keine Rolle, ob ich auf 2019 oder 2018 oder irgendein Jahr davor zurückblicke. Der Grund dafür sind eure Füße.
Eure Füße, die ich jeden Tag beobachte, während ich auf meiner Tüte sitze. Eure Füße, die sich beinah auf meiner Augenhöhe bewegen. Eure Füße, die jeden Tag im Rausch ihres Tageszwangs über die Bürgersteige rennen, ohne zu bemerken, dass sie dabei fast auf meine Sachen treten.
Es gibt wirklich eine Menge Füße, allein in Köln gut zwei Millionen. Aus meiner Sicht, der Sicht der Straße, wird die Gesellschaft immer größer. Sie vermehrt sich in einem Ausmaß, das wir zwar zu kennen glauben, aber nicht kontrollieren können. Die Menschenmassen in den Städten stellen uns nicht nur vor Herausforderungen, sie treiben uns auch an unsere Grenzen. Es wird voller.
Vielleicht nicht im Hyatt, aber im Mehrbettzimmer in der Notunterkunft, wo sich Flüchtlinge und Obdachlose um das letzte Bett prügeln müssen. Und im Sammelhotel, wohin obdachlose Frauen sich nicht trauen, weil sie das kleine Zimmer nicht mit einem wildfremden Mann aus dem Methadon-Programm teilen wollen.
Wir dürfen es nicht der Willkür überlassen, wer in Deutschland eine Bleibe hat und wer nicht. Ein Dach über dem Kopf ist ein Bürgerrecht. Aber manchmal hat man das Gefühl, Bürgerrechte gelten nicht für jeden. Ständig wird erzählt, es gebe kein Geld für sozialen Wohnungsbau. Und ich sitze Tag für Tag vor einer unfertigen Oper, die seit 2012 für 350 Millionen Euro saniert wird, und schaue einem Mann zu, wie er Dixi-Klos auf der Baustelle hin und her räumt.
Dass in diesem Land gesellschaftlich ausgegrenzt wird, darf nicht passieren. Da braucht es Veränderung, eine klare Haltung. Da braucht es vor allem mehr als nur drei Sachbearbeiter beim Sozialamt. Unsere Demokratie ist stark. Manchmal hat man das Gefühl: vor allem stark im Reden. Sie lebt von der mehrheitlich getragenen Übereinkunft, dass endlose Gespräche zielführender sind, als endlich Verantwortung zu übernehmen.
Gut. Lasst uns Tacheles reden. Über die Regeln des Miteinanders.
Es darf nicht sein, dass der Security-Mann mir den Einlass in die Einkaufspassage verwehrt, nur weil ich einen Rucksack trage oder meine Haare nicht gekämmt sind. Vor allem wenn ich nur vorhabe, mir einen Kaffee zu kaufen. Ein Polizist darf mich nicht mit Handschellen in eine Zelle sperren, nur weil ich zum Geburtstag ein paar Raki zu viel hatte. Wissen Sie, wie viele Leute besoffen durch Köln laufen? Aber ich werde als Obdachloser anders behandelt. Dabei bin auch ich Bürger dieser Stadt. Auch ich gehöre hierhin. Warum sollte ich mir keinen Kaffee kaufen? Oder auch mal ausgelassen feiern?
Mitbürger zu sein setzt ein Miteinander voraus. Um das zu erreichen, müssen wir weniger übereinander und mehr miteinander reden. Auch mit den Teilen der Gesellschaft, die wir verloren haben. Also auch mit mir! Mit dem, der auf der Straße sitzt, weil er trotz akademischer Ausbildung keinen Job mehr fand. Weil er zu viel besaß, um Sozialhilfe zu beziehen, und zu wenig, um damit auszukommen. Weil ihn ein Rohrbruch seine Wohnung gekostet hat und er irgendwann, aus Kraftlosigkeit und aus Stolz, auf die Tüte zog.
Liebe Mitbürger, ihr solltet immer wieder prüfen, was ihr zu einem guten Miteinander beitragen könnt. Wie ihr euren Blick ändern könnt auf Menschen, die sich freiwillig oder unfreiwillig dazu entschieden haben, ein anderes Leben als das eure zu führen.
Wir alle sollten für Sicherheit sorgen. Vor allem für Frauen auf der Straße, aber auch für mein Handy, das mir vor ein paar Tagen zum x-ten Mal beim Aufladen an der öffentlichen Steckdose geklaut wurde. In diesen Zeiten müssen wir alle ganz besonders darauf achten, uns genau auszudrücken. Müssen Wohnungslose statt Obdachlose sagen.
Werft das Geld nicht aus Hüfthöhe vor meiner Tüte zu Boden. Geht doch mal in die Knie, damit wir uns auf Augenhöhe begegnen. Wechselt die Perspektive. Wer von oben auf andere herabblickt, der sollte wissen, dass es ein schneller Weg vom Sieger zum Verlierer ist, wenn wir nicht aufeinander Acht geben. In diesem Sinne: Frohes neues Jahr!
Ein Wohnungsloser aus Köln, 52 Jahre
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