Umut Oral
24, lebt in Berlin. Bald will er seine Ausbildung fortsetzen.
Es passiert am Montagmorgen um 4 Uhr auf der A 9. Wir, meine vier Kollegen und ich, hatten in Frankfurt ein Musikvideo für einen Rapper gedreht und sind auf dem Rückweg nach Berlin. Ich sitze auf der Rückbank des schwarzen Opel Vectra. Wir fahren 140 km/h, aus den Boxen dringt deutscher Rap, als dem Fahrer die Augen zufallen. Sekundenschlaf. Plötzlich vor uns ein Lkw. Der Bass der Musik ist das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor wir zusammenstoßen. Die rechte Seite des Autos wird unter dem Lkw zerquetscht. Der Beifahrer ist sofort tot. Nur fünf Minuten zuvor waren wir rechts rangefahren und hatten die Plätze getauscht, weil ich lieber hinten sitzen wollte.
Ich überlebe mit einer schweren Hirnverletzung. Ich werde in ein künstliches Koma versetzt, künstlich beatmet und ernährt. Der Druck in meinem Schädel ist zu hoch. Jede kleinste Bewegung könnte Gefäße in meinem Hirn zum Platzen bringen, ich würde sofort sterben.
Die normale Dauer eines künstlichen Komas beträgt Tage, manchmal wenige Wochen. Nach fünf Monaten sagen die Ärzte zu meiner Familie: Selbst wenn er wieder aufwacht, ist an Laufen oder Sprechen nicht mehr zu denken.
Ich bekomme von alldem nichts mit. Ich weiß nicht, wie es sein kann, aber in der Zeit im Koma höre ich nur die Musik aus dem Auto. Ein Rap-Song, ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist das Erste, an das ich mich erinnere, als ich nach sechs Monaten meine Augen öffne. Ich weiß nicht, wer ich bin und wo ich bin. Ich kann nicht sprechen. Ich erkenne meine Mutter, die an meinem Bett sitzt. Die anderen erkenne ich nicht.
Als der Unfall passierte, war ich 18 Jahre alt, ich spielte gern Fußball und machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Nach dem Unfall konnte ich nicht mehr laufen, ich musste wieder lernen, zu sprechen und allein auf der Toilette zu sitzen. Zwei Jahre lang täglich: Krankengymnastik, Ergotherapie, Sitzungen mit dem Logopäden. Ich fühlte mich oft einsam.
Inzwischen bin ich 24, sitze im Rollstuhl und wohne bei meiner Mutter. Ich kann wieder sprechen. Und mit einem Gehwagen kann ich sogar ein paar Schritte gehen. Die Einsamkeit hat mich zur Musik getrieben. Ich rappe über die Behinderung, Familie und wahre Freundschaft.
Der Fahrer und die zwei anderen im Auto haben überlebt. Wir sind keine Freunde mehr.
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