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Lauter als die Schüsse

© Maho Irigoyen/Amnesty

Wendy Galarza kämpft für Frauenrechte in Mexiko. Bei einer Demonstration wurde sie von der Polizei ­angegriffen und verletzt. Amnesty International fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Von Luciana Ferrando

Am 9. November 2020 beteiligte sich Wendy Galarza in Cancún an einer Demonstration, die feministische Gruppen organisiert hatten. Die Protestierenden forderten Gerechtigkeit für eine Frau namens Alexis, die ermordet worden war. "Ich ging auf die Straße, damit sie aufhören, uns Frauen zu töten, und bin dabei fast das nächste Opfer geworden", sagt die mexikanische Aktivistin. Die Polizei schlug mit Schlagstöcken auf Galarza ein. Später stellte die 30-Jährige fest, dass sie Schusswunden am Bein und im Unterleib hatte. Nach Angaben von Augenzeug_innen schoss die Polizei zuerst in die Luft und später in die Menge.

Seit Wendy Galarza vor vier Jahren ihre Geburtsstadt San Luis Potosí verließ und nach Cancún zog, ist sie in feministischen Kollektiven aktiv, die sichere Orte für Frauen anbieten und Aktionen gegen geschlechtsspezifische Gewalt organisieren. In Mexiko werden Frauen oft deshalb diskriminiert, attackiert und ermordet, weil sie Frauen sind. Im Jahr 2020 wurden 3.723 Morde an Frauen verzeichnet, von denen nur 940 als Femizide untersucht wurden. "Die Corona-Pandemie hat die Situation noch schlimmer gemacht", berichtet die 30-Jährige, "viele Frauen waren zu Hause mit den Angreifern eingesperrt." Beruflich ist Galarza Erzieherin und engagiert sich für Kinder und Jugendliche. Ihrer Ansicht nach ist eine gute Erziehung der erste Schritt, um die Gesellschaft zu verändern. "Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass die kommenden Generationen eine bessere Zukunft haben", sagt sie.

In ihrer Freizeit ist Galarza leidenschaftlich gern Fahrrad gefahren. Das ist nicht mehr möglich, seit sie auf der Demonstrationen Verletzungen erlitt, die nur langsam heilen. Doch nicht nur ihre Mobilität wurde ihr am 9. November 2020 genommen: "Mein Leben hat sich seitdem radikal geändert. Der Angriff hat sich auf mein ganzes Leben, auf meine geistige und körperliche Gesundheit ausgewirkt", sagt sie.


Galarza gründete zusammen mit ihrem Partner und anderen Betroffenen eine Opferinitiative (Comité de Víctimas del #9N), die jeweils am 9. des Monats auf dem Platz, auf dem ­Galarza von der Polizei angegriffen wurde, eine Kundgebung ­abhält. "Ich werde nicht zulassen, dass der 9. November in Vergessenheit gerät", sagt die Aktivistin und betont, dass es sich bei Gewalttaten gegen Frauen nicht um Einzeltaten handele.


Der Angriff bei der Demonstration war nicht das erste Mal, dass Wendy Galarza physische Gewalt erlebt hat. Als Jugendliche wurde sie von einer Person, die ihrer Familie nahestand, misshandelt. "Doch als ich mich entschieden hatte, darüber zu sprechen, glaubte man mir nicht, niemand unterstützte mich", erzählt sie. Außerdem erlebe sie "wie jede andere Frau in Mexiko" auf der Straße häufig sexistische Sprüche, Belästigung und verbale Gewalt. All dies habe ihr bewusst gemacht, dass Frauen in einer männerdominierten Welt für ihre Rechte kämpfen müssten. In Mexiko Aktivistin zu sein, sei zwar "sehr schwierig" und mit Angst verbunden, aber Aufgeben ist für Galarza keine Option: "Wir Frauen müssen laut werden. Wenn wir alle zusammen schreien, werden wir stärker", sagt sie.


Wendy Galarza hat Strafanzeige gegen die Polizei gestellt und beantragt, dass der Angriff auf sie als versuchter Femizid gründlich untersucht wird. Bislang wurde niemand vor Gericht gestellt. Amnesty unterstützt die Aktivistin im Rahmen des diesjährigen Briefmarathons und fordert den zuständigen Staatsanwalt auf, den Vorfall unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt zu untersuchen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.


Luciana Ferrando ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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