In Westberlin, wo die Menschen noch Hut tragen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, dort liegt das gute Leben. Es versteckt sich in einem Mehrfamilienhaus in der Niebuhrstraße, einer ruhigen Nebenstraße nahe der Wilmersdorfer Straße mit ihren Weihnachtshütten und Einkaufszentren. Zwischen „Thaimassage für sie und ihn", Wohnhäusern mit eleganten Balkonen und Plattenbauten, Charme und Spleen.
Die kleine Oase trägt den sperrigen Namen „Lebensort Vielfalt". Drinnen ist das Licht warm, der Tisch-Weihnachtsbaum mit goldenem Lametta geschmückt. „Ruhe bitte, quiet please" steht auf einem Papierschild. Ein Mann mit Rollator macht eine Runde und nimmt sich eine Ausgabe des Magazins Siegessäule. Drei Viertel der Hausbewohner sind schwule Männer, die meisten über 55 Jahre. Wer nicht mehr allein für sich sorgen kann, zieht in die Pflege-WG mit acht Mitbewohnern.
Bernd Gaiser will sich bei den Büchern treffen. In der Bibliothek des Wohnprojekts „Lebensort Vielfalt", neben dem Café „Wilder Oscar". Früher war er Buchhändler, einen Teil des Bestands der Bibliothek hat er einfach selbst gestiftet. Denn Gaiser hat gelernt: Die lebenswerten Orte, die muss man sich selbst schaffen.
Gaiser hat weiße, kurz rasierte Haare, helle Augen und eine sanfte, tiefe Stimme. Er redet immer langsam und klar, als würde er eine Passage seines Lieblingsbuchs vorlesen, dabei gestikuliert er mit den Händen. Das Alter versteckt er unter einem orangefarbenen Kaschmirpulli und Jeans. Die Brille trägt er erst seit einigen Jahren: ein stilvolles Modell, mit dünnem goldenen Rahmen.
Zuerst muss Gaiser aber Aufzug fahren. Er begleitet seinen Mitbewohner - Bademantel, schwere goldene Halskette - in den Keller, zum Sprudelwasser. „Wir sehen uns heute Abend, ja?", erinnert ihn Gaiser. Sein Wort hat hier Gewicht. Heute ist der wichtigste Abend des Monats: das Plenum. Sie kommen zusammen, trinken, tratschen und organisieren ihr Leben: Diesmal müssen sie zwischen zwei Kandidaten über einen neuen Mitbewohner für die Oase entscheiden. „Auf der Warteliste stehen 300 Namen", sagt Gaiser stolz.
Als schwuler Mann wird man nicht alt, hatte Gaiser immer gedacht. Er wirkt ein bisschen amüsiert, während er das erzählt. Denn er ist jetzt 73. Und glücklich. Und noch immer absolut schwul. Er lächelt und knipst alle Lampen seines Studios im Dachgeschoss an. An den Wänden hänge schrille Akte à la Pierre et Gilles neben schlichten Schwarz-Weiß-Fotografien. Zwischendrin Momentaufnahmen seines Lebens als Aktivist in Berlin. Und Bücher über Bücher über Bücher. Als junger Mann habe ihn der französische Dramatiker Jean Genet geprägt. Am interessantesten ist die Innenseite der Außenseiter, schrieb der. Das war zu einer Zeit, als queere Literatur noch eine seltene Freude war. Heute, sagt Gaiser, komme er gar nicht mehr hinterher.
Zynisch werden, nein dankeMit 59 endete sein altes Leben. „Sie haben keine Aussicht mehr auf eine Vermittlung", sagte die Mitarbeiterin der Arbeitsagentur. Er war 59, die Buchhandlung, in der er seit 35 Jahren arbeitete, war gerade pleitegegangen. 59, das ist fast 60. 59 ist nicht mehr jung, das wurde ihm zum ersten Mal bewusst. Gaiser hätte zynisch werden können. Genet hielt Zynismus für den geglückten Versuch, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Andererseits: 59 ist zwar nicht mehr jung - aber auch noch nicht zu spät. Angenommen, er würde also doch alt. Wie stellt man das an?, fragte sich Gaiser und beschloss, mit denen zu sprechen, die es geschafft hatten. Er begann, für einen Besuchsdienst alte schwule Männer zu begleiten. „Es brach mir das Herz", sagt Gaiser. „Die waren isoliert in diesen Einrichtungen." Die alten Männer konnten nicht mehr gut laufen, nicht in die schwulen Bars in Schöneberg, nicht zum CSD. Das wilde, bunte Berliner Leben, für das Gaiser sein Leben lang gekämpft hatte, war für sie vorbei. Und die Männer hatten Angst davor, in den Heimen ihre sexuelle Identität offen zu zeigen. „Viele von denen waren mit dem Paragrafen 175 aufgewachsen, und sie dachten immer noch, sie müssten sich verstecken."
Als Gaiser 20 war und Marinesoldat, wurde ein Rekrut im Bett mit einem anderen Mann erwischt. Der junge Mann, der davon träumte, Balletttänzer zu werden, hielt den Druck nicht aus und nahm sich das Leben. „Das war ein Wendepunkt für mich", sagt Gaiser. „Ich wollte mich nie wieder verstecken." Mit 23 stieg Gaiser in den Zug vom 3000-Einwohner-Dorf Neckarhausen nach Berlin. Er kam am Bahnhof Zoo an, verstaute das Gepäck und machte seine allerersten Schritte in der Stadt: Richtung Ku'damm. „Es war überwältigend. Ich saß einsam auf einer Terrasse und konnte es spüren, wie das Leben um mich herum tobte und pulsierte." Er fühlte sich fremd und allein. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof betrat er eine kleine Buchhandlung und lernte einen schwulen Buchhändler kennen. „Er hat sofort erkannt, dass ich schwul, jung und neu bin." Das war für Gaiser das Zeichen: Er war hier richtig.
Gaiser wurde selbst Buchhändler, malte Plakate für den Westberliner Schwulenclub Schwuz, demonstrierte gegen den Pragrafen 175, organisierte den ersten CSD in Berlin. Ein Bild davon zeigt ihn im weißen Fummel und mit Stirnband, seinen Freund mit engen Jeans und Fahne. Es ist sein Lieblingsfoto. „Mein Freund ist seit 30 Jahren nicht mehr da, deshalb ist das eine wichtige Erinnerung." Drei seiner Partner starben an Aids, zehn Jahre lang hatte sich Gaiser um sie gekümmert. „Das ist schwer zu verarbeiten", sagt er. Genet schrieb mal, die Ehe verwandle Liebesglut in Sodbrennen. Aber Gaiser beneidet heute manchmal die Hausbewohner, die seit der Ehe für alle verheiratet sind. Die als Ehepaar alt werden. „In meinem Alter ist es nicht mehr einfach, jemanden kennenzulernen." Er lacht. „Vielleicht kommt die Liebe ja doch noch." Bis dahin ist die Liebe für Gaiser eben platonisch.
Statt in Rente zu gehen, setzte sich Gaiser nach der Kündigung an seinen Schreibtisch und schrieb ein Konzept für alte schwule Männer, die „mit Lebensqualität und Selbstbestimmung ihre letzten Jahre verbringen wollen". Er holte Kollegen und Freunde ins Boot. Erst neun Jahre später eröffnete das Haus. Gerade rechtzeitig: da war er 68.
Das WG-Leben ist schon hartSeit fünf Jahren gibt es Gaisers Oase. Er hat einen Lesekreis für queere Literatur gegründet. Sie gehen gemeinsam zur Philharmonie. Es gibt eine Theatergruppe und eine Kochgruppe. Im Sommer organisiert die Gartengruppe schillernde Feste unter dem Westberliner Himmel, zu denen die gesamte Nachbarschaft eingeladen wird. Damit auch die Alten zum CSD können, hat Gaiser eine Flotte Rikschas organisiert. Neulich, zum 40. Geburtstag des Schwulenclubs Schwuz, ist er noch mal in seinen Fummel gestiegen und hat sich von allen bei seinem Tuntennamen „Daisy" nennen lassen. Die Damen vom Seniorenheim haben 40 Törtchen gebacken und „Happy Birthday" gesungen. Die meisten Ruinen auf der Welt haben zwei Beine, schrieb Genet. Dazu will er nicht gehören: Gaiser ist ein quicklebendiger Jungbrunnen.
Trotzdem hat er für die nächste Etappe schon vorgesorgt. Er will gemeinsam mit seinen Mitbewohnern weiterziehen: in ein Gemeinschaftsgrab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Bis zur letzten Ruhe ist es aber noch eine Weile hin - und nicht unbedingt ruhig. Das WG-Leben sei schon hart. „Kein Paradies, das ist viel Arbeit." Es gebe Unsympathen und Feindschaften. „Aber wir unterstützen uns bedingungslos, halten zusammen, sind füreinander da. Ich kann so sein, wie ich bin", sagt Gaiser. Genet meinte mal, auch ein perfektes Chaos sei etwas Vollkommenes. Das ist für Gaiser das gute Leben.
Luciana Ferrando schreibt als freie Autorin über das Stadtleben in Berlin - und ist hin und wieder ebenfalls Buchhändlerin