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Seenotrettung: "Bitte tun Sie was, wir haben keine Zeit mehr. Die Leute sterben"

Es ist der 25. Mai 2020, kurz vor zehn Uhr, als auf dem Handydisplay von Lars Bucher* die Nummer eines Satellitentelefons erscheint. Bucher, 26, ist Programmierer. An diesem Tag hat er frei und betreut von seiner Wohnung in Zürich aus die Notfallnummer von Alarm Phone, einem Freiwilligen-Netzwerk, das Flüchtenden in Seenot hilft. Er hebt ab. Es ist laut im Hintergrund, so steht es später in den Anrufprotokollen, der Mann am anderen Ende der Leitung spricht gebrochenes Englisch.

Bucher: Hallo, hier ist Alarm Phone. Sind Sie in Seenot? Stimme: Bitte, wir brauchen Hilfe. Menschen sterben, bitte, wir brauchen Hilfe. Bucher: Okay, bitte geben Sie mir Ihre Position, Ihre Satellitenposition, GPS-Position. Stimme: Bitte, Sie müssen kommen und uns retten. Wir wollen nicht sterben. Bucher: Bitte, wir brauchen Ihre Satellitenposition! Das ist das Wichtigste, damit wir Ihnen helfen können. Stimme: Okay, okay: N 33 20 173. Bucher: N 33 20 173, okay. Und dann? Stimme: E 013 42 018.

Die Aktivisten von Alarm Phone sitzen in Deutschland, der Schweiz oder Italien. Ihre Notfallnummer kann man per Satellitentelefon erreichen, das Flüchtlingen von Schmugglern meistens mitgegeben wird. Alarm Phone alarmiert dann die Küstenwachen der Länder rings ums Mittelmeer. Jetzt, in den Sommermonaten, erhält die Gruppe manchmal mehrere Anrufe pro Woche. Fünf Jahre nach dem großen Flüchtlingstreck nach Europa versuchen weiterhin Tausende Menschen das Mittelmeer zu überqueren. Vor allem über die zentrale Route von Libyen Richtung Italien und Malta. Über 42.000 Migranten haben in diesem Jahr bereits die europäischen Küsten erreicht. Wie viele dabei gestorben sind, weiß niemand genau. 2019 sind nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über 1200 Menschen ertrunken.

Bucher: Wir haben kein eigenes Schiff, aber wir tun alles, um Ihnen zu helfen. Wie viele Menschen sind Sie? Stimme: 91, 91. Bitte, kommen Sie und helfen Sie uns. Wir wollen nicht sterben.

Im Verlauf der nächsten halben Stunde rufen die Flüchtlinge alle paar Minuten an. Über eine App werden sie auf das Handy von Bucher geleitet. N 33° 20.173, E 013° 42.018 hat er notiert. Zusammen mit einem weiteren Schweizer Aktivisten, dem 29-jährigen Getränkespediteur Nino Henauer*, ermittelt er die Position des Flüchtlingsboots. Es befindet sich sechzig Seemeilen von der libyschen Stadt Al-Chums entfernt. Zuständig in diesem Gebiet ist die libysche Küstenwache. Deren Angehörige, oft ehemalige Milizionäre, werden immer wieder beschuldigt, Gerettete zu misshandeln.

Dahinter liegt die maltesische Such- und Rettungszone, noch weiter nördlich die italienische. Bucher und Henauer warten einige Minuten in der Hoffnung, dass das Boot aus der libyschen Zone heraustreibt. Um 10.30 Uhr spricht Bucher ein letztes Mal mit den Flüchtlingen an Bord.

Bucher: Hallo, wie geht es Ihnen? Funktioniert der Motor noch? Stimme: Nein, der Motor funktioniert nicht. Wasser läuft ins Boot. Wir brauchen jetzt Hilfe! Bitte! Bucher: Okay, bitte hören Sie mir genau zu. Wir versuchen jetzt die Küstenwache zu kontaktieren, um Rettung zu organisieren. Wollen Sie, dass wir auch die Küstenwache in Libyen anrufen? Stimme: Ja, bitte tun Sie irgendwas, wir haben keine Zeit mehr. Wir wollen nicht nach Libyen zurück, aber wir brauchen sofort Hilfe. Die Leute sterben.

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