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Ein besseres Europa muss auf Grenzen verzichten

Ein tiefes Gefühl der Verunsicherung hat sich in Europa eingeschlichen, seit Krieg und Gewalt in der Welt durch mediale Bilder und Berichte immer näher rücken. Warum die sogenannte Flüchtlingskrise eine Krise des Politischen ist und nur ein Europa ohne Grenzen eine gute Antwort darauf bietet.

Früher waren es Entfernungen, die die schöne neue Welt vom großen Elend trennten. Räumliche Distanzen verschleierten, was Reichtum und Überfluss in Europa andernorts an Gräueltaten auslösten. Die fürchterlichen Auswirkungen des Kolonialismus, der sich weite Teile Afrikas, Asiens und Südamerikas zu eigen machte und in seiner brutalen Gegenüberstellung aller für ihn fremden Kulturen ganze Bevölkerungsgruppen ausrottete, versklavte und tyrannisierte, blieben unsichtbar für die meisten in Europa.

Wer die Gräueltaten kolonialer Herren mit eigenen Augen sehen wollte, der musste abertausende von Meilen über Land und Meere zurücklegen um sich davon zu überzeugen, dass das Herz der Finsternis nicht bloß den düsteren Fantasien eines ambitionierten Schriftstellers entsprang.

Heute ist es schwer, die Augen vor Gewalt und Elend jenseits der nördlichen Hemisphäre zu verschließen. Schonungslos präsentiert uns die Tagesschau allabendlich Bilder von ausgebrannten Dörfern und zerbombten Städten, von Attentaten und zerfetzten Leichen, von fliehenden Familien und hungernden Kindern.

Auf Youtube blickt man in die fanatischen Gesichter von Menschen die mit Messern Kehlen durchschneiden, sieht Reportagen über Minderjährige die in gigantischen Fabriken sechzehn Stunden pausenlos am Fließband arbeiten und Jugendliche die sich in Slums von Müll ernähren. Die Nachrichtenfenster der U-Bahn Stationen informieren uns fast schon routinemäßig über neue Bombardements in Syrien und Ertrunkene im Mittelmeer.

Kein Hauch von Abenteuer mehr

All die Bilder und Berichte sind keine Bleistiftzeichnungen in Geschichtsbüchern mehr, sie haben den Charakter von Mythen und Abenteuergeschichten verloren. Sie wirken direkt, unmittelbar und nah.

In schonungsloser Echtzeit dringen die Stimmen der Opfer neuer Anschläge, Smartphonevideos von Fluchtwegen durch öde Wüstenlandschaft und Fotos ausgemerzter Kinderkörper über soziale Netzwerke, Radio- und TV Kanäle bereits am Frühstückstisch auf uns ein.

Über transnationale Handelsketten und internationale Finanzmärkte bleibt man selbst im Supermarkt von subtilen Hinweisen auf Armut und Ausbeutung beim Kauf von Billigkaffee und Schokoriegeln nicht mehr ganz verschont. Fast schon erleichtert wenden wir uns sich in dieser schaurig beschleunigten und zusammenschrumpfenden Welt den eigenen, doch meist ein wenig leicht verdaulicheren Alltagssorgen zu.

Dass nicht alle Übel der Welt auf Nord-Süd Polarisierungen zurückzuführen sind, dass es auch in Europa bitterste Armut und im globalen Süden maßlosen Luxus von Eliten gibt, schwächt doch nicht das immer prägnanter werdende Bild der globalen Kluft zwischen vereinzelten Inseln der Glückseeligen und weiten Teilen von Verdammten dieser Erde.

Fast schon phrasenhaft klingt da der Hinweis, dass die Schauplätze von Krieg und Armut meist in ehemals kolonialisierten Ländern verortet sind, während sich der Wohlstand in den Herkunftsstaaten früherer Kolonialherren konzentriert. Die andauernd ungerechte Ordnung der Welt ist damit zutiefst historisch verwurzelt.

Ein neues Unbehagen der Gesellschaft

Mit jedem neuen Bericht über Schlauchboote die im Mittelmeer versinken, mit jeder Made-in-Bangladesch Etikette die wir auf unserem T-Shirt entdecken und mit jeder neuen Warnung vor Terrorgefahr in Deutschland steigt Gefühl eines tiefen Unbehagens, das Menschen hierzulande zunehmend irritiert. Ein Unbehagen, das die Illusion einer Welt, die grundsätzlich in Ordnung war, Stück für Stück zerrüttet.

Es schleicht sich die Erkenntnis ein der Täuschung des modernen Versprechens, dass mit Technologie, Aufklärung und Kapitalismus ein Zeitalter des Friedens und Wohlstands einherginge. Oder dass dieses Versprechen eben nur für sehr wenige galt.

Farbton für Farbton verblasst das Rosarot unserer glamourösen Blase, entblößt die hässliche, gewaltsame Fratze des Elends, das sich jenseits unserer Lebenswelt abspielt, sich aber in Gestalt medialer Bilder und Berichte mehr und mehr in unseren unaufgeregten Alltag schleicht.

Das Erstarken der Rechten in den nördlichen Ländern ist mit eben diesem schmerzlichen Erkenntnisprozess der dunklen Seite der Wirklichkeit verbunden. Die Verunsicherten suchen ihren Trost in simplifizierten Erklärungen die beteuern, dass ihre Privilegien legitim und alles so gut sei wie es ist.

Der Scheintrost kann allerdings kaum von Dauer sein, weil nicht nur die Regionen übergreifende Berichterstattung, sondern auch globale Phänomene wie der Anstieg der Klimaerwärmung, zunehmende Mobilität, Kosmopolitarismus und Migration, transnationale soziale Bewegungen und Anschläge in Ankara, Bagdad und Paris die eng verflochtenen Zusammenhänge zeitgenössischer Entwicklungen immer sichtbarer aufscheinen lassen.

Irgendwann lässt sich nicht mehr übersehen, dass sich die Welt in einem fürchterlichen Ungleichgewicht befindet. Dass die einen für 30 Cent Stundenlohn herstellen was die anderen für Spottpreise konsumieren, die einen fröhlich Pauschalreisen nach Thailand buchen, während sich andere in Todesangst nach Europa bewegen, die einen in dem Meer baden in dem andere ertrinken und die Rechte auf Freiheit, Schutz und Bildung nur einer Elite der Weltbevölkerung zustehen.

Irgendwann lässt sich nicht mehr vorgaukeln, dass die Zufälligkeit des Geburtsortes ein haltbares Argument für ein Mehr oder Weniger am Recht auf gutes Leben ist. Schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde erkannt, dass es moralisch keinen Unterschied macht, ob ein Mensch in Deutschland oder Syrien entgegen stirbt. Heute stehen die Grenzen Europas dem Prinzip der gleichen Rechte aller Menschen kontradiktorisch entgegen.

Grenzen statt Menschenrechte?

Die Grenzen Europas sind ein primitiver Versuch der Abschottung vom Unrecht in der Welt, das so tief in Europa selbst verwurzelt ist und das im Zeitalter der Globalisierung sogar in den Reichsten aller Breitengerade immer sichtbarer wird.

Die Grenzen Europas sind ein Erbe der kolonialen Weltordnung, die heute in neuem Gewand fortwirkt und entgegen dem Prinzip der allgemein geteilten Menschenwürde von jenen aufrechterhalten wird, die davon profitieren.

Aber das Zeitalter der Globalisierung lässt Grenzen immer plastischer werden und entblößt ihre konstruierte Natur. Mit jeder neuen Nachricht von Krieg und Zerstörung verstärkt sich das Gefühl einer diffusen Sorge, die im Grunde längst erkannt hat, dass eine Welt, die man den eigenen Kindern nicht erklären kann, keine gute ist.

Solange aber Fliehende durch Militär und Stacheldrahtzäune ferngehalten werden, solange wir jene die vor Armut und Elend fliehen "Wirtschaftsflüchtlinge" nennen, solange das Streben nach Wohlstand und Selbstverwirklichung nur einer Elite zusteht, solange Geflüchtete in Lager verfrachtet und Wohlstandssorgen gegen den Schutz vor Tod und Verfolgung abgewogen werden, solange bleibt ein historisch gewachsenes System bestehen in dem wir Jeans tragen die für Hungerlöhne genäht und Handys nutzen die von Kindern produziert wurden, so als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Die Flüchtlingskrise, die in erster Linie eine Krise für die Flüchtenden ist, hält dem verherrlichenden Selbstbild der Europäischen Gemeinschaft einen ungeschönten Spiegel hin und entblößt ihr hässliches Fundament, das nicht primär auf Werten der Freiheit und Gleichheit, sondern auf Egoismus und nationalem Eigennutz beruht.

Die Forderung an Flüchtlinge nach einer Anpassung an europäische Werte, während gleichzeitig Deals mit Diktatoren abgeschlossen werden um Verfolgte an der Flucht zu hindern, offenbart den zynischen Doppelsprech dieser Union, deren Ziel statt dem Schutz von Menschen der Schutz ihrer Grenzen ist.

Für ein Europa ohne Grenzen

Nur ein Europa ohne Grenzen wird den globalen Verflechtungen gerecht, denen wir uns mit der immer näher rückenden Greifbarkeit von Zerstörung und Leid in der Welt immer weniger entziehen können.

Die grässlichen Bilder von Sterbenden werden nicht weniger werden - sie werden uns so lange verfolgen, bis das Prinzip der Humanität, das bereits jetzt in Solidaritätsbewegungen und Willkommensinitativen, in Wissenschaftsdiskursen und Menschenrechtserklärungen auch in Europa verankert ist, zum radikalen Umdenken zwingt.

Bis endlich erkannt wird, dass es kein Verdienst, sondern ein Zufall ist, ob wir in Deutschland oder in Syrien geboren werden. Und dass die Öffnung von Grenzen kein emotionaler Akt, sondern eine notwendige Konsequenz aus der Prämisse der gleichen Wertigkeit aller Menschen ist.

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Die Vision einer Welt mit offenen Grenzen setzt voraus, dass diese Welt eine Gerechtere ist. Weil dann das populistische Gegenargument des "dann kommen ja alle" und man sei "nicht das Sozialamt der Welt" nicht nur empirisch entkräftet wäre - bleibt doch der Großteil aller Flüchtlinge faktisch im globalen Süden - sondern auch theoretisch genauso redundant wie bei den liberalen Einreisebestimmungen innerhalb des Schengenraumes, die niemand mit der Gefahr von Überbevölkerung verbindet.

Eine Welt mit offenen Grenzen setzt voraus, die historisch gewachsenen, tief verankerten Missstände zwischen ehemaligen Kolonien und Europa nicht mehr hinzunehmen, sondern zu erkennen, dass Armut und Reichtum in wechselseitigen Zusammenhängen stehen und ein Großteil unseres laissez fairen Lebensstils auf Ausbeutung und Armut anderswo basiert. Eine Welt ohne Grenzen muss gleiche Chancen auf ein gutes Leben für alle einfordern.

Sie setzt voraus, die Menschenrechte wahrhaft anzuerkennen und Politik nach diesen universellen Maßstäben auszurichten, statt in Nationalismus und Kleinstaaterei verhaftet zu bleiben. Ein solch radikales Umdenken mutet mühsam, ja beängstigend an, aber es ist die einzig gute Antwort auf das Unbehagen, das das immer mehr Menschen um uns herum erfasst.

Nur ein Europa ohne Grenzen kann den alten Traum einer guten und freien Welt retten, für den Europa einmal stand. Weil eine Welt ohne Grenzen eine wahrhaft gerechtere wäre.

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