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Jüdische revolutionäre Spuren

Den Spruch auf der Berliner Schlosskuppel bekommen Marx und Engels zum Glück nicht zu lesen. Foto: Imago Images/Jürgen Ritter

Das neu errichtete Berliner Schloss hätte Karl Marx wohl nicht gefallen. "Aber ihn trifft das Glück, knapp daran vorbeizugucken", sagt Stefan Zollhauser am Marx-Engels-Denkmal zwischen Alexanderplatz und Humboldt-Forum zu der zehnköpfigen Gruppe, die er am Samstag beim Stadtspaziergang "Jüdische Perspektiven auf die Märzrevolution 1848" durch Mitte führt. Im 19. Jahrhundert sei überall in Europa die Frage aufgekommen, wie das Judentum sich zur Revolution positioniere - und teilweise unterscheide sich diese Perspektive von der christlichen und der atheistischen. Während Marx, obwohl selbst jüdischer Abstammung, zum Beispiel in seinem Aufsatz "Zur Judenfrage" antijüdische Stereotype wie die des "Wucherjuden" bediente und Religion als "Opium des Volkes" bezeichnete, kämpften andere Jüd*innen auch für eine Gleichberechtigung ihres Glaubens, so Zollhauser.

Anlässlich des Gedenkjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" hat Stefan Zollhauser mit drei weiteren Historiker*innen in einem Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Gedenkort Friedhof der Märzgefallenen und der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum sieben Touren konzipiert, die sich auf die Spuren jüdischer Revolutionär*innen begeben.

Dieser Stadtspaziergang beginnt am Standort der ältesten Synagoge Berlins an der Heidereutergasse nahe des Alexanderplatzes. Sie wurde Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut und im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute deutet nur noch eine unscheinbare Tafel darauf hin, die aber, so Zollhauser, kaum jemand zur Kenntnis nehme. "Wir sind aber im Gespräch mit dem Bezirksamt, um diesen Platz anders zu gestalten", sagt Zollhauser, der in Berlin auch die historischen Führungen "Berliner Spurensuche" anbietet und sich vor allem für den Alltag gewöhnlicher Leute interessiert.

Aus der jüdischen Geschichte seien jedoch überwiegend Aufsteiger*innen und Wissenschaftler*innen bekannt, was das "Klischeebild vom reichen Juden" zementiert, wie Zollhauser sagt. Und auch die Erinnerung an die Märzrevolution sei von bürgerlichen Figuren geprägt, die demokratische Rechte wie Rede- und Versammlungsfreiheit forderten. "Aber in der Realität kämpften und starben auf den Barrikaden vor allem Menschen aus der Unterschicht, zum Beispiel Handwerker", die eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensbedingungen anstrebten. An die Standorte der Barrikaden, die in der Nacht vom 18. auf den 19. März 1848 errichtet wurden, erinnern heute elf Tafeln im Bezirk Mitte, eine weitere an die Aufbahrung der Märzgefallenen auf dem Gendarmenmarkt.

Einige der Schilder sind jüdischen Revolutionären gewidmet. Zollhauser zeigt den Tourteilnehmer*innen eine in Gedenken an den Studenten Levin Weiß an der Rathausstraße und eine weitere für den zum Protestantismus konvertierten Journalisten Gustav Julius an der ehemaligen "Zeitungshalle" an der Ecke Jäger-/Oberwallstraße - "ein völlig vergessener Akteur der Revolution". Während der jüdische Reformer und Revolutionär Leopold Zunz große Hoffnungen darauf setzte, dass die Barrikadenkämpfe die Bevölkerung befreien würden, habe Julius zu den Skeptikern gehört. "Nichts ist umgestürzt worden", zitiert Zollhauser den Journalisten.

Wieder andere, etwa Michael Sachs, Rabbiner der Alten Synagoge, an deren Standort die Tour begann, hätten durch die Revolution Nachteile für die jüdische Gemeinde befürchtet - nicht zu unrecht. So seien Jüd*innen auch für die Propaganda von Konterrevolutionären wie die des protestantischen Theologen Ernst Wilhelm Hengstenberg missbraucht worden, der Jüd*innen, aber auch Atheist*innen als Urheber der revolutionären "Tyrannei" brandmarkte, erzählt Zollhauser.

Vor dem Berliner Schloss angekommen, sagt er, es sei "eine bittere Ironie", dass an dessen Kuppel im vergangenen Jahr wieder ein Spruch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. angebracht worden sei, laut dem es "kein ander Heil" gebe als das "im Namen Jesu". Schließlich sei es eine Errungenschaft der Märzrevolution gewesen, dass diese Kuppel damals sechs Jahre nicht weiter gebaut worden sei. "Es ist wirklich eine Schande", stimmt eine der Teilnehmerinnen Zollhauser zu.

Auch sind dem Historiker zufolge viel weniger Straßen in Berlin nach Freiheitskämpfer*innen als nach Königen und Konterrevolutionären benannt, zum Beispiel die Kreuzberger Wrangelstraße nach dem preußischen General Friedrich von Wrangel, der die Revolution in Berlin im November 1848 niederschlug. Insgesamt waren "die unmittelbaren Auswirkungen der Revolution auf die jüdische Gleichberechtigung in Preußen eher gering", bilanziert Stefan Zollhauser zum Ende des Stadtspaziergangs am Gendarmenmarkt.

"Ich bin ganz perplex, wie viel Wissen du hast", sagt Christina Waschkiewicz, eine der Teilnehmer*innen. Sie findet es "spannend, sich laufend Geschichte anzueignen" mit jemandem, der sich so gut mit Berlins Historie auskennt. Einige andere sind regelmäßige Gäste bei Zollhausers "Spurensuche" und wollen auch wiederkommen - denn es gibt noch viel zu entdecken in Berlin.

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