Könnte ich meine Biografie neu schreiben, hätte ich Rechtswissenschaften studiert.
freistuz:
Herr Lindner, Sie sind nicht nur aktiver Politiker, sondern haben auch
Politikwissenschaften studiert. Was bedeutet Ihnen die Politik
eigentlich?
Christian Lindner:
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, weil es kein anderes Feld
gibt, in dem man so sehr mit seinen eigenen persönlichen Überzeugungen
arbeiten kann und durch das man Gesellschaft gestalten kann. Als aktiver
Politiker Politik studiert zu haben, gibt einem in manchen Fragen für
die Systemzusammenhänge einen präziseren Blick. Könnte ich meine
Biografie neu schreiben, hätte ich aber nicht Politikwissenschaften
studiert, sondern das methodische Recht, weil Rechtswissenschaft zu noch
präziseren und nachprüfbareren Ergebnissen kommt.
f:
Sie sind also Politiker, weil sie hier eine Verbindung aus Pragmatismus
und Idealismus finden, oder ist es ein praxisbezogener Idealismus?
C:
Ich würde es noch krasser formulieren als Sie. Es ist Gestaltungs- und
Machtwille. Reine Idealisten, die nicht gestalten wollen, gehen in einem
System, das von permanenter Frustration gekennzeichnet ist unter.
Spätestens in der heute-show werden sie dann untergepflügt. Menschen,
die nur Machtwillen ohne Idealismus haben, denen glauben die Leute
nicht. So wie es in der Bibel steht: „Hätte er der Liebe nicht, wäre er
ein tönend Erz.“ Es braucht beides.
f:
Eine persönliche Frage von einem unserer Leser: Sie haben gerade die
Bibel zitiert. Haben Sie einen Glauben und wenn ja, welchen?
C:
Ich bin katholisch getauft, aber aus der Kirche ausgetreten, kein
praktizierender Christ und ob und an was ich glaube, ist schwer zu
sagen. Auf die kantsche Frage: „Was dürfen wir hoffen?“, würde ich
gegenwärtig antworten, dass ich die Antwort auf eine fernere Zukunft
verschoben habe. Also, ich kann die Frage gegenwärtig gar nicht richtig
beantworten, weil das in einer so tiefen seelischen Schicht liegt, die
ich gegenwärtig gar nicht erreiche.
f: Befinden Sie sich in einer Glaubenspause?
C: Das ist ein tolles Wort. In einer Reflexionspause über die letzten Dinge würde ich vielleicht sagen.
f: Was heißt „Freiheit“ für Sie?
C: Die Abwesenheit von Zwang.
f: Sie
sprachen vorhin von der Unmöglichkeit, eine Biografie zu verändern.
Stimmt es, dass Sie Ihren eigenen Wikipedia-Artikel nachgebessert haben?
C:
Ja, aber absolut. Ich würde das auch jederzeit wieder machen, wenn es
nicht so skandalisiert würde. Da standen falsche Annahmen drin, zum
Beispiel bei meiner Religionszugehörigkeit. Da stand, es liegen
widersprüchliche Annahmen vor. Leider bin ich in dem Fall keine
objektive Quelle und durfte das nicht ändern. Meine Korrekturen wurden
wieder rückgängig gemacht und nun ist mein Wikipedia-Eintrag unlesbar
geworden. Viele irrelevante Details stehen immer noch drin. Mein
Lebenslauf ist länger als der von Sigmar Gabriel, obwohl der 20 Jahre
älter ist. Hinz und Kunz schreiben da irgendwas rein, das unaktuell oder
falsch oder mindestens halb richtig ist. Man kann es nicht korrigieren,
weil man der Schwarm-Intelligenz, die manchmal aber auch bräsig ist,
ausgeliefert ist. Ein großes Problem!
Die AfD ist ein Staubsauger für Leute, die Angst vor der Zukunft haben.
f: Was wollen Sie bei den nächsten Wahlen besser machen?
C: Wir machen einfach ein gutes Angebot, das überzeugt.
f: Und was war bei den letzten Wahlen nicht so gut am Angebot?
C:
Die FDP hat nicht für die eigene Partei geworben, sondern um Stimmen
gebeten, damit Frau Merkel Kanzlerin bleibt. Ich bin doch nicht Mitglied
einer Partei, damit jemand aus einer anderen Partei Karriere macht.
f:
Inzwischen haben die „Freien Demokrat*innen“ einen Imagewandel hinter
sich, verkürzt oft als „gelb ist jetzt magenta“ belächelt. Richtig viele
Stimmen gesammelt hat aber eine andere Partei. Hat die AfD der FDP in
Sachen medialer Selbstdarstellung etwas voraus?
C:
Nein, die AfD ist ein Staubsauger für Leute, die Angst vor der Zukunft
haben. Und wir sind das genaue Gegenteil. Die AfD legt sich in vielen
Fragen nicht fest.
f: Wie kann die AfD bekämpft werden, wenn wir es nicht schaffen, die sogenannte Flüchtlingskrise zu lösen?
C:
Erstens: Nicht die Wähler sofort als Nazis abstempeln, das führt zu
einem Märtyrer-Status. Zweitens: Die grundlegenden Probleme, die zum
Entstehen dieser Partei führen, lösen. Und drittens: Den Charakter
dieser Partei herausarbeiten. Dazu gehört es, deutlich zu machen, dass
die sagen, der Islam gehört nicht zu Deutschland. Sie unterscheiden hier
nicht zwischen Islam und Islamismus. Damit werden Millionen gut
integrierte Muslime in Deutschland ausgegrenzt und unser sozialer
Frieden gefährdet.
90 Prozent der Menschen brauchen keinen erhobenen Zeigefinger.
f:
Warum machen Sie sich über den Bundesjustizminister Heiko Maas lustig
und über seinen Einsatz für das Verbot von sexistischer Werbung?
C:
Weil wir das in Deutschland schon mal hatten. Es gab Prozesse gegen
Plakate von Beate Uhse und Gerichte mussten entscheiden, ob das nun ein
freundliches Lächeln, oder ein Anstiften zur Unzucht ist. Damals gab’s
den Straftatbestand noch und das brauchen wir nicht zurück. Ich kaufe
ein Produkt, das mit plattem Sexismus beworben wird nicht, dafür brauche
ich keine Geschmackspolizei.
f: Heißt das, der Markt regelt das von alleine?
C: Sie regeln das, sie kaufen das sexistisch beworbene Produkt nicht.
f:
Ist es nicht mal dann ein Problem, wenn wir Werbebildern täglich
ausgeliefert sind, die als starke archetypische Eindrücke auf das
Realitätsbild jedes Menschen einwirken?
C:
Ich sage ihnen mein Menschenbild: Ich glaube, dass 90 Prozent der
Menschen, die uns begegnen, empathische, kluge, vernünftige Leute sind,
die nachdenken und die mit guten Argumenten erreichbar sind. Die
brauchen nicht den erhobenen Zeigefinger.
f: Wir müssen auf jeden Fall festhalten, dass die gegenwärtige Gesellschaft ein Problem mit Sexismus hat. Und das sehen sie nicht?
C: Woran machen Sie das fest?
f: Daran dass Geschlechter nicht gleichberechtigt sind.
C:
Geschlechter sind noch nicht gleichberechtigt, nur ist das für mich kein
Sexismus. Sexismus bedeutet, dass sexuelle Merkmale eines Geschlechts
in besonderer Weise objekthaft zur Schau gestellt werden.
f: Und das passiert.
C:
Ja, aber wenn die Alternative zurück in die Prüderie der 50er Jahre ist,
würde ich jetzt sagen, dass wir auf einem besseren Weg sind.
f: Was ist die größere Gefahr: ein Aufbrechen oder Beibehalten der medialen Rollenbilder?
C:
Das ist eine Frage, die unsere Gesellschaft selbst verhandelt. Ich
jedenfalls möchte nicht, dass der Staat in diesen Fragen seine
kulturelle Schablone aufdrückt. Wir reden über Geschmacksfragen.
Sittenwidrige Werbung ist untersagt.
f: Wie wollen Sie die Gleichberechtigung bei Beschäftigungsverhältnissen aller Geschlechter umsetzen?
C:
Durch Ermunterung, Förderung und eine Abkehr von der Selbstbeschränkung.
Frauen beschränken sich zu häufig selbst auf Nicht-Führungspositionen.
Sie geben familiären Verpflichtungen Vorrang oder verkaufen sich unter
Wert.
f: Wussten wir gar nicht, dass das bei allen Frauen so ist.
C:
Nein, aber bei vielen. Deshalb glaube ich, dass das Problem, dass Frauen
in Führungspositionen heute unterrepräsentiert sind, sich über die
Strecke löst.
f:
Nun sind wir eine Studierendenzeitung und interessieren uns natürlich
besonders für Hochschulpolitik. Sie setzen sich, wie die LHG
Nordrhein-Westfalen, unter Berufung auf Professor Stefan Winter, für
nachgelagerte Studiengebühren ein, auch Absolventen-Solidarbeitrag
genannt. Wenn das sozial gerecht ist, warum zahlen Gymnasiast*innen dann
nicht auch ihr Abitur?
C:
Das Abitur ist ja kein berufsqualifizierender Abschluss. Das ist beim
Studium anders. Wenn dann darüber hinaus eine zusätzliche Einnahme
exklusiv im Hochschulbereich, zur Verbesserung der Studienbedingungen
verbliebe, wäre es auch ein guter Deal.
Selbst anpacken, sich einbringen, Autonomie-Gedanke.
f:
Unser letzter Teil bewegt sich im hypothetischen Raum. Angenommen, die
FDP ist Regierungspartei und Sie sind amtierender Bundeskanzler. Was
wird Ihr erster Beschluss sein, wenn sie alle Macht haben?
C: Den Bildungsföderalismus in Deutschland reformieren, das ist meine erste Amtshandlung.
f: Was liegt Ihnen am Herzen, das nicht unbedingt im Wahlprogramm steht?
C:
Das ist eine gute Frage. Ich bin bei dessen Erstellung dabei. Es ist
etwas, dass der Staat nicht vorgeben kann. Der kann keine anonyme
Bürokratie machen. Etwas mehr von dem Denken: Selbst anpacken, sich
einbringen, Autonomie-Gedanke. Gelebte Solidarität, aber nicht solche,
durch die anonymen Agenten einer bürgerfernen Wohlfahrtsstaatlichkeit,
sondern eben echte Solidarität.
f: Wie würden Sie die Macht von Großkapitalisten unterbinden? Oder steht Ihnen die zu?
C:
Wenn wir Google als Beispiel nehmen, bin ich der Auffassung, dass man
über eine eigentumsrechtliche Entflechtung nachdenken muss. Das heißt
konkret, Daten, die in der Suchmaschine gesammelt werden, dürfte Google
nicht für eine eigene Google-Versicherung einsetzen. Eigentumsrechtliche
Zerschlagung hört sich vielleicht noch dramatischer an. Als scharfes
Schwert des Wettbewerbsrechts, so wie in den 20er und 30er Jahren, als
Standard Oil in den USA entflochten worden ist, weil das Unternehmen zu
mächtig im Rohstoffmarkt war. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Bei
Plattform-Unternehmen könnte man sagen, dass sie nur auf einer Ebene der
Wertschöpfungskette tätig sein dürfen. Sie sind also entweder eine
Plattform, dann haben sie keine eigenen Produkte. Oder sie haben eigene
Produkte, dann dürfen sie aber nicht mehr als Plattformen agieren. Das
ist die größte Herausforderung für die digitale Ökonomie. Beim zweiten
Bereich, das sind die Kapitalmärkte, braucht es eigentlich nur eine
Regel: Wer handelt, muss auch geradestehen für seine eigenen Ergebnisse.
Wenn eine Bank schlecht wirtschaftet, dann wird sie zulasten ihrer
Eigentümer und Gläubiger abgewickelt.
f: Wem gehört das Geld?
C:
Jede Münze hat einen Eigentümer. Ich bin dafür, dass je mehr jemand an
Einkommen hat, desto höher darf auch die Steuerschuld sein, prozentual.
Die wirtschaftlich besonders Erfolgreichen nehmen Infrastruktur und
kulturell vorhandenes Vorwissen in stärkerer Weise in Anspruch als
andere und dafür darf ein Preis genommen werden, also durch angepasste
progressive Steuer.
f: Vielen Dank für das Interview!