Die Europäische Union braucht eine neue Geschichte. Die Erzählungen von Wohlstand und Frieden reichen schon lange nicht mehr aus. Stattdessen jagt eine Krise die nächste: erst der Euro, dann die Asyl- und Migrationspolitik, nun die Pandemie und der Klimawandel. Bestenfalls finden die 27 EU-Mitgliedstaaten gemeinsam Lösungen. Doch welche? Dazu sollen die Bürgerinnen und Bürger künftig ihre Meinungen abgeben – und zwar auf der Konferenz zur Zukunft Europas, die an diesem 9. Mai, am Europatag, offiziell eröffnet wird.
Immer wieder wird die politische Berechtigung der EU infrage gestellt, immer wieder versuchen die Institutionen, dieser Skepsis zu begegnen. So sollte die 2012 eingeführte europäische Bürgerinitiative, eine Art erweitertes Petitionsrecht, für mehr Mitsprachemöglichkeiten sorgen.
Allerdings hat sie sich als ziemlich harmlos herausgestellt: Zwar können Unionsbürger mit einer erfolgreichen Initiative erzwingen, dass sich die EU-Kommission mit einem Thema beschäftigt. Ein Gesetzentwurf muss aber nicht folgen. So forderte eine Initiative, die ausreichend Stimmen sammelte, das Recht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung in den europäischen Gesetzen zu verankern. Die Kommission reagierte darauf lediglich mit öffentlichen Beratungen zum Thema.
Nun soll es die einjährige Zukunftskonferenz richten. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist eine digitale Plattform, auf der Debatten geführt und Veranstaltungen organisiert werden. Eine gute Entscheidung, denn so haben in einer Union mit 448 Millionen Menschen möglichst viele die Chance, ihre Ideen zu Themen wie Umwelt, digitaler Wandel, Zukunft der Demokratie oder Bildung abzugeben.
Zur Teilnahme braucht man nur das Internet – und eine Meinung.
Zur Teilnahme braucht man nur das Internet – und eine Meinung. Die Plattform eröffnet die Möglichkeit, Diskussionen über Grenzen hinweg entstehen zu lassen. Die unterschiedlichen Sprachräume sind etwas, das der EU häufig als Makel angekreidet wird, doch auf der Plattform können die Teilnehmenden ihre Beiträge in einer der 24 Amtssprachen verfassen. Diese werden automatisch übersetzt – getreu dem EU-Motto „Einheit in Vielfalt“.
Im nächsten Schritt sollen repräsentative Bürgerforen zusammenkommen und über Handlungsempfehlungen beraten. So weit, so gut. Allerdings droht die Konferenz, ohne weitreichenden Einfluss zu bleiben. Denn die EU-Verträge, zuletzt angepasst mit dem Vertrag von Lissabon, sollen nicht angetastet werden. Tiefgreifende Veränderungen können Bürger also nicht erwarten. Stattdessen wollen die EU-Organe prüfen, wie ein „effektives weiteres Vorgehen“ aussehen kann – im Einklang mit den Verträgen. Das sind ernüchternde Aussichten.
Dabei gibt es Beispiele von Bürgerbeteiligungen mit konkreten Auswirkungen, wie zum Beispiel der irische Verfassungskonvent. Gemeinsam mit Politikern berieten zufällig ausgewählte Bürger über Verfassungsänderungen. Empfehlungen des Gremiums wurden in Volksabstimmungen eingebracht. So auch die Ehe für alle, die das Volk mehrheitlich befürwortete.
Auch die EU wollte sich Anfang der 2000er-Jahre eine Verfassung geben. Doch die entsprechenden Referenden scheiterten in Frankreich und den Niederlanden. Stattdessen einigten sich die Mitgliedstaaten auf den Vertrag von Lissabon. Das war 2007 – vor der Eurokrise und dem Brexit. Dadurch hat sich das europäische Zusammenleben drastisch gewandelt, und das müssen die Gesetze widerspiegeln. Dafür muss die EU ihre Verträge reformieren, sonst wird das nichts.
Als es darum ging, eine europäische Verfassung zu gestalten, wurden die Bürger nicht nach ihren Ideen gefragt. 20 Jahre später sollen sie sich auf der EU-Zukunftskonferenz Gehör verschaffen. Das ist eine reelle Chance, nicht an den Menschen vorbeizuregieren. Die europäischen Institutionen müssen den Bürgern nicht nur zuhören, sondern deren Wünsche auch ernst nehmen und umsetzen. Alles andere wäre unglaubwürdig. Und die kann sich die EU – auch angesichts der gegenwärtigen Krisensymptome – nun wirklich nicht leisten.
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