Bin ich Manager oder Arzt? Eine Frage, die sich Umes Arunagirinathan oft stellt. Seit 18 Jahren arbeitet er im Krankenhaus: Zunächst als Pflegehelfer, dann als Assistenzarzt und mittlerweile als Herzchirurg am Klinikum Links der Weser. Patienten und Kollegen kennen ihn als Doktor Umes. Seine oberste Priorität ist es, Menschen zu helfen. Im deutschen Gesundheitssystem stehe aber etwas anderes an erster Stelle, sagt der Mediziner, und zwar der Profit. Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus – nach fast zwei Jahrzehnten im Beruf will der Facharzt diese Kluft zwischen Anspruch und Realität nicht länger hinnehmen. Vergangenen Herbst veröffentlicht er sein Buch „Der verlorene Patient“ im Rowohlt Verlag. Arunagirinathan prangert die Missstände in Krankenhäusern und Praxen an. Außerdem benennt er, was sich ändern muss – und landet damit mehrere Wochen lang in den Top 20 der Spiegel Bestsellerliste.
Arunagirinathan ist Wahl-Bremer; seit 2019 arbeitet er als Funktionsoberarzt im kleinsten Bundesland. Regelmäßig pendelt er zwischen der Neustadt und Hamburg, seinem Zuhause, seitdem er mit zwölf Jahren allein von Sri Lanka nach Deutschland geflohen ist. Hamburg würde er nie aufgeben wollen, aber auch in Bremen habe er mittlerweile Freunde. „Ich bin Norddeutscher“, sagt Arunagirinathan.
"Jeder, der im Buntentorsteinweg umfällt, bekommt eine Herz-OP.“
Er kennt den Vergleich zu medizinischen Systemen in anderen Ländern, seine Familie lebt unter anderem in Kanada, Großbritannien und den USA. „Wir haben eine der besten Gesundheitsversorgungen weltweit“, sagt der Arzt. „Jeder, der im Buntentorsteinweg umfällt, bekommt eine Herz-OP.“ Aber er beobachtet die Entwicklungen in deutschen Krankenhäusern und Arztpraxen mit Sorge – und formuliert, was sich ändern muss. Der Herzchirurg will alles daran setzen, die Ressourcen im medizinischen Alltag zu maximieren. Aber nicht, um mehr Geld zu erwirtschaften, sondern um die Lebensqualität seiner Patientinnen und Patienten zu verbessern, sagt er. Denn das sei die Leistung, die ein Krankenhaus erbringen müsse. Das bedeutet laut dem Mediziner auch, dass Patienten nicht um jeden Preis behandelt werden sollten. „Wir müssen Menschen auch gehen lassen“, sagt Arunagirinathan.
Nach dem derzeitigen System würden die Ärzte belohnt, die möglichst viele Operationen durchführen, sagt der Mediziner. Sie seien die Helden des Unternehmens, oftmals auf Kosten ihrer Patienten. Aus dieser Logik auszubrechen, ist laut Arunagirinathan für viele, gerade junge Ärzte, schwierig – zu groß sei der Druck von oben. „Es ist eine diktatorische Entscheidung des Chefarztes, ob jemand zum Facharzt wird.“ Seiner Meinung nach sollte die Facharztausbildung deswegen stärker geregelt und von der Ärztekammer abgenommen werden. Derzeit blieben jungen Medizinern kaum Chancen, um aus der Reihe zu tanzen.
Arunagirinathan selbst hat bereits früh den Wunsch, sich zu engagieren. „Schon in meinem ersten Jahr habe ich gedacht, dass ich was verändern muss“, sagt er. Also wirkt er im Hamburger Studierendenparlament mit, im Betriebsrat, wird Sprecher der Assistenzärzte. Ein Buch über das Gesundheitssystem möchte er auch schreiben – allerdings wird ihm geraten, damit bis zum Ende seiner Facharztausbildung zu warten. Und so wartet er. Im Mai 2019 wird er Facharzt der Herzchirurgie, im November des darauffolgenden Jahres erscheint „Der verlorene Patient“.
BEREITS SEIN DRITTES BUCH
Es ist bereits das dritte Buch, das der 42-Jährige veröffentlicht hat. 2006 erscheint „Allein auf der Flucht“. Darin erzählt Arunagirinathan, wie seine Mutter ihm 1991 während des Bürgerkriegs mithilfe einer Schlepperbande ermöglicht, das Land zu verlassen. Es sollte acht Monate dauern, bis er Hamburg erreicht, wo sein Onkel lebt. In seinem ersten Buch habe er erklären wollen, wieso er nach Deutschland gekommen ist. In seinem zweiten Buch „Der fremde Deutsche“ beschreibt er 2017 sein Leben zwischen den Kulturen. Geflüchtete wolle er damit ermutigen, Teil der Gesellschaft zu werden. Die Gesellschaft müsse aber auch ihre Türe öffnen. Statt vorschnell zu urteilen, solle man sich kennenlernen, sagt er. „Dialog ist das A und O.“ Die bayerische Schulbehörde habe das Buch als Unterrichtslektüre empfohlen.
Für Arunagirinathan sei es ein Glück, in Deutschland zu leben. „Das Land hat mich aufgenommen und finanziert“, sagt er. Er habe vom Sozialsystem profitieren dürfen und eine gute Ausbildung erhalten. „Bildung hat mir viele Türen eröffnet.“ 2008 wird er eingebürgert – für ihn fühlt sich das nach Anerkennung an. Anerkennung, Deutscher zu sein. Das Land gebe ihm das Gefühl von Zuhause. Heute möchte er zurückgeben und die Gesellschaft mitgestalten, seine Bücher helfen ihm dabei. „Jedes Buch ist ein politisches Mandat.“ Mit ihnen könne er viele Menschen erreichen und Impulse setzen. Positive Rückmeldungen geben ihm Energie weiterzumachen. Kritiker gebe es aber auch, sagt Arunagirinathan. „Nicht jedem gefällt, dass ich meine Meinung sage. Nicht alle Führungspersonen kommen damit klar.“
In „Der verlorene Patient“ zitiert Arunagirinathan die Genfer Deklaration des Weltärztebundes. Das ärztliche Gelöbnis, mit dem ein Mediziner beteuert, sein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. In Deutschland steht es vor der Präambel der Berufsordnung. Für Arunagirinathan sind es die Grundsätze, anhand denen er seine Vorschläge für das Gesundheitswesen formuliert. Allen voran die Forderung, dass der Patient wieder zur Richtschnur des Handelns werde und nicht Maxime der Gewinnorientierung oder die Auslastung von Kapazitäten.
Als Junge hat Arunagirinathan Obst und Gemüse auf den Straßen von Sri Lankas Hauptstadt Colombo verkauft. Heute hadert er damit, Behandlungen nach einem festen Schema abrechnen zu müssen, damit das Krankenhaus profitabel bleibt. Der Herzchirurg weiß, dass der Umbau des Gesundheitssystems dauern würde. „Das ist ein jahrzehntelanges Projekt“, sagt Arunagirinathan. „Aber wäre ich Gesundheitsminister, ich würde es machen.