Washington de Oliveira hatte in Brasilien Erfolg mit seiner Musik. Seinen ersten Chor leitete er mit 16 Jahren, lernte Klavier, studierte klassischen Gesang. Als Sänger tourte er durch das Land und wenn seine Chöre auftraten, war das Haus voll, sagt er. „Ich konnte mich nicht beklagen.“ Trotzdem wollte de Oliveira weg.
Mit Anfang 30 entschied er sich, seine Heimat zu verlassen. Er wollte mehr erleben, etwas anderes sehen. Und vor allem: einen anderen Blick für seine Kunst bekommen. Seine Wahl fiel auf Bremen, der Liebe wegen. 2010 kam er hierher. Mit seinem Partner von damals ist de Oliveira nicht mehr zusammen – geblieben ist er trotzdem. „Bremen hat dieses musikalische, künstlerische Flair, das mir sehr gut gefällt“, sagt der 45-Jährige. „Es macht mich glücklich, hier zu sein.“ Heute leitet er fünf Chöre in der Stadt. Einer davon ist „Da Capo al dente“, Bremens erster lesbisch-schwuler Chor.
Seit 1997 gibt es „Da Capo al dente“. De Oliveira leitet ihn seit acht Jahren. Die gut 30 Mitglieder singen und musizieren gemeinsam – wie jeder andere Chor auch. Aber wenn „Da Capo al dente“ Auftritte inszeniert, dann steht auch immer eine Botschaft im Vordergrund. „Es gibt immer noch Vorurteile“, sagt de Oliveira. Darum erzählen sie von Menschenrechten oder der schwul-lesbischen Bewegung. „Wir wollen nicht nur schön singen, sondern auch, dass die Menschen unsere Stimme hören.“ Um die gesamte Vielfalt zu repräsentieren, hat „Da Capo al dente“ im vergangenen Jahr seinen Namenszusatz geändert – aus „lesbisch-schwul“ wurde „queer“.
Mit der neuen Bezeichnung öffnet sich der Chor für alle Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft – das ist die Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, trans- und intersexuell. „Es ist grenzenlos, wen du liebst und wer du sein willst. Das muss Teil unserer Botschaft sein“, sagt der Chorleiter. „Es gibt ein großes Spektrum und wir sind für alle da.“ Für alle, die singen wollen, ohne diskriminiert zu werden.
HERKUNFT UND HAUTFARBE LASSEN SICH NICHT VERBERGEN
Diskriminierungserfahrungen habe auch er gemacht – aufgrund seiner Sexualität, aber vor allem in Bezug auf seine Herkunft, sagt de Oliveira. „Vielleicht liegt es daran, dass ich mich als Schwuler leichter verstecken kann. Meine Herkunft und meine Farbe kann ich nicht verbergen. Wenn ich den Mund aufmache, merkt man, dass ich nicht von hier bin.“ Die Mehrheit der Menschen, denen er begegne, behandle ihn mit Respekt. Aber es gebe immer wieder Situationen, in denen er mit Vorurteilen konfrontiert werde. „Ein Bekannter hat mich in den Wallanlagen mit Büchern gesehen, die ich ausgeliehen hatte. Er war ganz überrascht, dass so jemand wie ich so viel liest“, erzählt de Oliveira. „Es wird davon ausgegangen, dass Ausländer nicht studiert oder gebildet sind. Dass jemand aus einem Land, das unter der Äquatorlinie liegt, nicht mehr so intelligent sein kann.“
Für de Oliveira definiert sich Charakter unabhängig von Sexualität oder Herkunft. „Ich bin wie ich bin, und ich brauche nicht mehr oder weniger als alle anderen auch.“ In Deutschland sei das Leben zwar leichter als in Brasilien, wo Diskriminierungen zur Tagesordnung gehörten – aber er sorge sich. „Populisten und Rechtsextremisten werden stärker. Das macht mir Angst.“
Brasilien besucht de Oliveira so oft wie möglich, sein neues Zuhause ist aber Deutschland. Bremen erinnere ihn an seine Heimatstadt Maceió im Nordosten des Landes – aber mit einem anderen Level an Kultur und Musik. Hier könne er seinen Horizont erweitern und weiterlernen. Neue Musikrichtungen entdecken und dabei auf seine brasilianischen Wurzeln zurückgreifen. Auf ein Genre legt sich de Oliveira nicht fest. An der Staatlichen Universität von Alagoas studierte er klassische europäische Musik. In seinen Gruppen in Brasilien drehte sich alles um die vielfältige lokale Kunst. Sein erstes Engagement in Bremen: amerikanische Barbershop-Musik. Eine Umstellung, denn über Jahre sei er fest davon überzeugt gewesen, nichts auf Englisch zu machen – dann doch lieber Spanisch. „Aber dann musste ich und habe mich in die Musik verliebt.“ Zwei Barbershop-Chöre leitet er auch heute noch.
Während seiner Ausbildung 2012 in klassischer Chorleitung an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel hat de Oliveira Johann Sebastian Bach analysiert – und wie dieser seine Werke lebendig machte. Seitdem hätten diese Stücke eine ganz andere Bedeutung für ihn. „Das ist tolle Musik, voll mit Gefühl. In Brasilien arbeitet die Musik eher technisch.“ Erfahrungen wie diese hätten ihn beeinflusst. Heute mache er mit allen Chören alles Mögliche: Bach, Barbershop oder Marianne Rosenberg. De Oliveira: „Sowas kann man vielleicht nur erfahren, wenn man hierher kommt.“