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Outing am Arbeitsplatz: Schluss mit dem Verstellen

JJ Link hat ein Regenbogennetzwerk bei der Fraunhofer-Gesellschaft gegründet – eine Plattform für Austausch, die das Coming-out erleichtern soll Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Menschen, deren Sexualität oder Geschlechtsidentität von der heterosexuellen Norm abweicht, erfahren nach wie vor Diskriminierung im Arbeitsalltag. Ein Outing erfordert viel Mut. JJ Link und Margarete Voll wollen das ändern.


Stuttgart - Verheiratet, Mutter von zwei Kindern, angestellt bei der Fraunhofer-Gesellschaft: Lange Zeit lebte JJ Link ein Leben, das nach außen hin klassisch wirkte – nach den Maßstäben einer Gesellschaft, in der Heterosexualität als Norm gilt und tiefergehendes Wissen über andere sexuelle Orientierungen noch rar ist. Bis eines Tages eine Petition gegen den Bildungsplan des Landes „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ in Links Heimatort Nagold gestartet wurde – ein Affront für jedes Mitglied der Regenbogengemeinschaft – und Link zum Handeln zwang.


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Link war sich früh über die eigene Bisexualität im Klaren. Später erkannte Link, „dass ich mich weder eindeutig als Frau noch als Mann fühle“ – und trat einer Selbsthilfegruppe für Transmänner bei. Nur: Das Arbeitskollegium wusste von alldem nichts. „Ich war zu scheu“, sagt Link heute.


Outing tendenziell in bestimmten Branchen

Mit dieser Scheu ist Link nicht allein, wie eine im Herbst 2020 veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin und der Universität Bielefeld zur Arbeitsmarktsituation von lesbischen, schwulen, bi-, trans-, queer und intersexuellen (LSBTQI*) Menschen in Deutschland zeigt. Demnach geht beinahe ein Drittel der Befragten am Arbeitsplatz nicht offen mit der eigenen Sexualität oder Geschlechtsidentität um. Wenn sich LSBTQI*-Menschen outen, dann tendenziell in Branchen, in denen sie vergleichsweise stark vertreten sind.


Zwar hat es in den vergangenen Jahrzehnten Fortschritte bei der Gleichstellung von Menschen unterschiedlichster sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität gegeben. Viele große Firmen haben inzwischen Diversity-Beauftragte ernannt und ahnden Diskriminierungen aller Art. Dennoch, das ergab die Studie, sehen sich 30 Prozent der Befragten nach wie vor mit Diskriminierung im Berufsleben konfrontiert. Bei den Trans-Menschen sind es sogar mehr als 40 Prozent.


JJ Link trifft eine mutige Entscheidung

So sind sie im produzierenden Gewerbe und in der Land- und Forstwirtschaft beispielsweise unterrepräsentiert, im Gesundheits- und Sozialwesen ist ihr Anteil hingegen größer. In ersterem Bereich gehen nur 57 Prozent offen mit ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität um – im Gesundheits- und Sozialwesen sind es knapp drei Viertel. Die Autorinnen und Autoren der Studie vermuten deshalb sogar, dass LSBTQI*-Menschen bestimmte Branchen aus Angst vor Diskriminierung von vorneherein meiden.


JJ Link wagte sich angesichts der Vielfaltsgegner in die Offensive: „Ich habe mich politisiert und radikalisiert.“ Von da an bekannte sich Link dazu, bisexuell zu sein, trug Gay-Pride-T-Shirts im Büro – und gründete ein Regenbogen-Firmennetzwerk. Eine Plattform für Austausch, die anderen das Coming-Out erleichtern soll. Über das Netzwerk erfuhren die Beschäftigten später auch von Links Geschlechtsanpassung und davon, dass Link am liebsten nicht mit „er“ oder „sie“, sondern mit dem neutralen Personalpronomen „es“ angesprochen werden will. Was zunächst ungewohnt klingen dürfte, ist Gewöhnungssache, glaubt Link. Die Saarländer dürften ihm zustimmen. Sie sprechen Frauen im Dialekt seit jeher in der neutralen Form an („es Hilde“; auf Hochdeutsch: „das Hilde“).


Ein berufliches Netzwerk für lesbische Frauen

Der Schritt, sich zu outen, kann entscheidend sein, glaubt Margarete Voll. Sie hat vor mehr als 20 Jahren das Netzwerk Wirtschaftsweiber gegründet. Damals wollte Voll sich mit Mitarbeiterinnen anderer Unternehmen vernetzen. Als sie feststellte, dass es keine Gruppen gibt, in denen lesbische Arbeitnehmerinnen zusammenkommen, gründete sie selbst eine.

In den Anfangsjahren habe das Netzwerk noch damit geliebäugelt, sich im Vorstellungsgespräch zu outen, um damit beim Arbeitgeber zu punkten – vor dem Hintergrund, dass Lesben damals äußerst selten Kinder bekamen und somit auch nicht als Arbeitskräfte ausfielen. „Das hat sich heute überholt“, sagt die 63-Jährige. „Es gibt lesbische Frauen, die Kinder haben oder wollen – und Heterofrauen mit Kindern, die sich anders organisieren.“


Bei ihren Überlegungen sahen sich die Wirtschaftsweiber laut Voll nie als Gegenstück zu Hetero-Frauen, sondern vielmehr als Menschen, die doppelt diskriminiert werden – in ihrer Eigenschaft als Frauen und als Lesben. Dabei stand unter anderem die Frage zur Debatte, ob Lesben anders als Hetero-Männer führen. Auch Diskussionen über Pragmatisches führten sie, zum Beispiel darüber, wie sie ihr Geld sinnvoll anlegen könnten. „Es gab ja noch keine Ehe für beide“, sagt Voll. Vor allem aber fungierte die Gruppe als Plattform, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen und Erfolge zu teilen. Bei Voll ist der Plan aufgegangen: Sie wirkte viele Jahre als Führungskraft und Geschäftsführerin bei der Allianz.


Plädoyer für das Outing im Beruf

Einer Sache ist sich die 63-Jährige heute gewiss: Angestellte wollen ein Gespür dafür haben, wer ihre Vorgesetzten sind und ob sie ihnen Vertrauen schenken können. Wer Führungsverantwortung übernehmen und dabei authentisch sein möchte, kommt laut Voll um ein Outing am Arbeitsplatz nicht herum. „Wenn ich zum Beispiel nicht weiß, ob meine Chefin oder Kollegin in einer Beziehung lebt oder nicht, mit wem sie im Urlaub war – mit ihrer Freundin oder Lebensgefährtin? – dann bleibt da oft unbewusst eine Distanz“, gibt Voll zu bedenken.


Wer sich outet, wirkt demnach authentischer. Gleichzeitig tragen Outings dazu bei, queere Identitäten sichtbar zu machen. Das wiederum, so Volls Gedankengang, könnte dazu beitragen, dass diese irgendwann als selbstverständlich angesehen werden – und anderen das Coming-Out erleichtern. Die passende Gelegenheit für das Outing zu finden, könne sich dabei als schwierig erweisen. Wer eine Stelle neu übernimmt, muss sich ohnehin vorstellen und hat dabei die Gelegenheit, sich zu outen. Anders sieht es aus, wenn eine Person in eine Abteilung hineinwächst. Wann soll sie oder er das Thema dann ansprechen?


Die Rolle der Unternehmen

Auf der Seite der Arbeitgeber stellt sich noch eine andere Frage: Was können Firmen tun, um Vielfalt und Toleranz in ihren Reihen zu fördern? Lisa de Vries, eine der Autorinnen der DIW-Studie, ruft Unternehmen dazu auf, „ein diskriminierungsarmes Arbeitsumfeld zu schaffen, damit Arbeitsplätze für diese Zielgruppe attraktiver werden“. Firmen, die beim Christopher Street Day (CSD) mitlaufen, signalisieren öffentlich, dass sexuelle Diversität zu ihrem Selbstverständnis gehört. Beim CSD in Stuttgart im Juli 2020 – Schauplätze waren coronabedingt ein Studio und eine Freilichtbühne – betonten unter anderem die Diversity-Beauftragten der Firmen Bosch, SAP und der Deutschen Bank, wie wichtig eine solche Rückendeckung des Arbeitgebers sein kann.


Große Firmen böten tendenziell mehr Schutz als kleine, sagte Matthias Weber, Präsident des European Pride Business Network und Bosch-Mitarbeiter. Und dennoch: „Auch hier marschiert man beim Bewerbungsgespräch nicht unbedingt mit der Regenbogen-Flagge rein.“ Bei der Diskussion mit Beschäftigten im Ausland zeigte sich auch, dass die Thematik in anderen Ländern unter Umständen noch komplexer ist. So gibt es Menschen, die im Kollegium offen über ihre sexuelle Orientierung sprechen können, sich aber verschließen, sobald sie das Firmengelände verlassen – weil das gesellschaftliche Umfeld weit weniger liberal als die Firmenkultur ist.


Ein Zeichen für die Öffentlichkeit

Auch JJ Link und Margarete Voll sehen die Werte eines Unternehmens als zentral an. Einerseits, gibt Link zu bedenken, könne es abwertendes Verhalten einzelner Personen immer geben, egal, ob sich das Unternehmen gegen solche Verhaltensweisen positioniere oder nicht. Andererseits – und da sind sich Link und Voll einig – setzen Firmen wie EnBW, Allianz oder die Fraunhofer-Gesellschaft ein starkes Zeichen nach außen und stärken queeren Angestellten den Rücken, indem sie sich zu einer diskriminierungsfreien und diversen Unternehmenskultur bekennen.


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