Lisa Kuner

Freie Journalistin, Leipzig

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Artikel

Corona in Brasilien: Explodierende Fallzahlen und soziale Folgen - Bolsonaro reagiert mit „kann ich nichts machen"

Corona hat Brasiliens Wirtschaft stark getroffen. Trotzdem hat sich durch die Pandemie die soziale Ungleichheit verringert.

Brasiliens Wirtschaft kam im Jahr 2020 noch mit einem blauen Auge davon. Das laufende Jahr könnte deutlich schlechter werden. Corona-Hilfen wurden inzwischen eingestellt und Bolsonaro will die Wirtschaft hochfahren. Wirtschaftsexperten fordern stärkere Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung.

Brasilien - Ende des vergangenen Jahres sah es noch so aus, als käme Brasiliens Wirtschaft in der Corona-Pandemie noch mit einem blauen Auge davon. Zumindest im Vergleich einiger anderer Staaten in Lateinamerika sah man in Brasilien noch eher optimistisch in die Zukunft. Zwar sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Brasilien 2020 um -4,7 Prozent, der Wert ist aber noch deutlich besser, als in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen das BIP rund doppelt so stark einbrach. Das seien „positive Daten" meinte Präsident Jair Bolsonaro. Der Hauptgrund für diese recht gute Performance in der Krise war, dass durch Pandemiehilfen der Konsum in Brasilien hochgehalten wurde. Die Prognosen für 2021 waren erstmal optimistisch, Ende des Jahres sagten noch viele Expertinnen und Experten eine rasche Erholung der Wirtschaft voraus.

Nun sieht die Lage anders aus: „Es wird sehr lange dauern bis sich Brasilien von dieser Krise erholt", sagt Laura Barbosa de Carvalho, Ökonomin an der Universität von São Paulo. In einige Branchen vor allem in der Industrie zeigten sich zwar schon erste Zeichen der Besserung, gleichzeitig werde nun aber auch die strukturelle Abhängigkeit von Branchen wie dem Tourismus immer deutlicher. Und hier sei erstmal keine Erholung zu erwarten.

Auf den Arbeitsmarkt hat das starke Auswirkungen: Die Arbeitslosigkeit hat mit knapp 14 Prozent einen Höchstwert erreicht. Aber die Realität ist noch komplexer: Etwa die Hälfte der Brasilianer und Brasilianerinnen ist informell beschäftigt. Das bedeutet sie arbeiten ohne festen Arbeitsvertrag oder gesichertes Gehalt, etwas als Hausagenstellte oder Straßenverkäufer. Viele dieser Jobs sind seit Beginn der Pandemie weggefallen. Mit fatalen Folgen denn für viele Menschen fielen die Einkünfte so schlagartig auf null.

Nothilfen milderten wirtschaftliche Folgen 2020 ab

Gerade für diese Menschen ohne finanzielle Absicherung verabschiedete der brasilianische Kongress im vergangen Jahr Corona-Soforthilfen. Rund 70 Millionen Menschen, also ungefähr jeder dritte Brasilianer, profitierten davon: Knapp 100 Euro (600 Reais) monatlich konnten arme Familien in Brasilien im vergangenen Jahr bekommen. Für viele war das die Rettung vor dem Absturz in die extreme Armut und den Hunger. „Allein diese Nothilfen waren im letzten Jahr für rund vier Prozent des BIPs verantwortlich", erklärt Carvalho und so lasse sich dann auch erklären, warum Brasiliens Wirtschaft nicht so stark einbrach, wie in anderen Teilen Lateinamerikas. In Argentinien beispielsweise brach die Wirtschaft um neun Prozent ein. „Ohne diese Ausgaben wäre die Lage in Brasilien jetzt noch viel schlechter", meint die Wirtschaftswissenschaftlerin.

Die Soforthilfen an die ärmsten Brasilianer haben auch zu einem interessanten wirtschaftlichen Effekt geführt. „Es ist paradox, denn trotz der Gesundheits- und Wirtschaftskrise ist die Armut aufgrund der Soforthilfen im letzten Jahr gesunken", erklärt Carvalho. „Dank dieser Sozialausgaben konnte die Krise im letzten Jahr deutlich abgemildert werden". Dass sei aber nur ein kurzfristiger Effekt und könne nicht als Erfolg der Regierung Bolsonaro gewertet werden, schließlich sei der Präsident anfangs gegen die Notfallzahlungen gewesen und nur engagierte Parlamentarier hätten dafür gesorgt, dass das Maßnahmenpaket trotzdem im Kongress verabschiedet wurde.

Explodierende Fallzahlen und starke soziale Folgen

In diesem Jahr dürfte das anders werden: Präsident Jair Bolsonaro hatte die Soforthilfen Ende 2020 gestoppt und die Pandemie für beendet erklärt. Inzwischen wurden zwar für 2021 erneute Nothilfen beschlossen, sie fallen aber deutlich niedriger aus, weniger Familien profitieren davon und das Geld fließt frühestens in der zweiten Aprilhälfte.

Explodierende Fallzahlen, vor allem auch durch die brasilianische Mutante des Virus, und soziale Härten wirken sich inzwischen deutlich negativer aus und die Konsumausgaben dürften dadurch deutlich sinken. „Das wird eine soziale Tragödie", meint dazu die Ökonomin Carvalho. Schon in den letzten Jahren habe die soziale Ungleichheit in Brasilien zugenommen, durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werde die noch größer. „Gerade die informell beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen, die sowieso schon immer ganz unten in der wirtschaftlichen Hierarchie standen, verlieren jetzt noch zusätzlich.", erklärt Carvalho.

Aktuell ohne Nothilfen sind außerdem Brasilianer und Brasilianerinnen im informellen Sektor nun wieder gezwungen arbeiten zu gehen, denn viele von ihnen haben kaum Ersparnisse. Mehrere Monate ohne Einkünfte können sie nicht überbrücken. Während der Pandemie ist das für viele ein Gesundheitsrisiko, denn statt im Homeoffice zu arbeiten fahren sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Brasiliens Großstädte um beispielweise in reicheren Haushalten zu putzen oder verkaufen Lebensmittel auf der Straße und haben so direkten und ungeschützten Kontakt zu einer großen Anzahl an Personen.

Preisanstieg für Grundnahrungsmittel

Selbst wenn der eigene Job nicht betroffen ist, bekommen die Menschen in Brasilien die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie nun immer stärker zu spüren: Die Inflation bewegte sich mit 4,5 Prozent im vergangen Jahr zwar nicht vollkommen außerhalb dem Rahmen des Üblichen, aber gerade die Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis oder Öl stiegen oft noch deutlich stärker.

Selbst Präsident Jair Bolsonaro, der sein Amt mal mit dem Versprechen von wirtschaftlichem Aufschwung angetreten hatte und bisher sehr gut darin war, seine Leistungen zu betonen, scheint da etwas resigniert zu haben. Im Januar sagte er „Brasilien ist kaputt. Da kann ich nichts machen".

Die Pandemie als leichte Grippe

Dass er nichts machen kann oder vielmehr will, um Brasilien vor den Folgen der Pandemie zu retten, zeigt sich immer wieder in den Entscheidungen der Regierung. Bolsonaro betont beispielsweise wiederholt, dass Land müsse sich dringend zwischen dem „Dilemma Menschen oder die Wirtschaft zu retten" entscheiden. Statt auf konsequente Maßnahmen, bezeichnet Bolsonaro die Pandemie noch immer als „leichte Grippe" und Politikerinnen und Politiker, die in einzelnen Bundestaaten auf Ausgangsbeschränkungen setzten sind in seinen Augen „Kriminelle", die der Wirtschaft schaden wollen. Masken seien etwas für „Schwuchtel" und „Weicheier".

Experten und Expertinnen der Wirtschaft teilen die Einschätzungen des Präsidenten allerdings nicht: Am vergangen Sonntag (21. März) wurde ein Brief veröffentlicht, in dem mehr als 500 Ökonomen und Bankiers endlich effiziente Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung fordern. Sie sprechen darin davon, dass Bolsonaro mit seinen Aussagen ein „falsches Dilemma" zwischen Menschenleben und der Wirtschaft aufmache und dass sich Brasilliens Wirtschaft nicht erholen werde, solange die Gesundheitsprobleme ungelöst blieben. Außerdem steht in dem Brief, dass die Situation in Brasilien als aktuellem Epizentrum der Pandemie alarmierend sei.

Die brasilianische Wirtschaftsjournalistin Paula Ramón berichtet über einen Brief, der von mehr als 500 Ökonomen unterzeichnet wird und die These vertritt, dass Brasilien die fehlende Effizienz in der Pandemiebekämpfung teuer zahlen muss. Darin steht unter anderem: „Brasiliens Wirtschaft wird sich nicht erholen solange wir das Gesundheitsproblem nicht lösen." Und „Brasilien hat eine Regierung, die dem Kampf gegen die Pandemie bekämpft".

Mais de 500 economistas expõem em carta como a falta de eficácia no combate à pandemia custou caro ao Brasil. "A economia não vai se recuperar enquanto não resolvermos o problema da saúde." "No Brasil, temos uma liderança que combate o combate à pandemia." https://t.co/m3akXPS8mP

- Paula Ramón (@paulacramon) March 22, 2021

Auch die Ökonomin Laura Carvalho sieht für das kommende Jahr auch eher schwarz: „Die Situation könnte sich drastisch verschlechtern", meint sie. Grund wäre dann sowohl die fatale Gesundheitspolitik als auch der fehlende politische Wille die Situation unter Kontrolle zu bringen.

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