Illegale Aktionen auf dunklen Geländen: Street Art umwob stets der Nimbus, riskant und gefährlich zu sein. Nicht zuletzt deshalb war sie lange ein männlich dominiertes Milieu. Aber in einer Zeit, in der Frauenpolitik auf der politischen Tagesagenda steht und Facebook rund 50 verschiedene Geschlechteridentitäten anbietet, ist auch das (nächtliche) Sprühen und Taggen längst nicht mehr heterosexuellen Männern vorbehalten. So steigt der Anteil queerer und feministischer Street Art stetig an. Mit Tags, Sprühdosen, Postern oder Aufklebern bearbeiten die Künstlerinnen und Künstler Müllcontainer, Werbeplakate, Stromkästen und Straßenschilder, Hauswände. Ihre Mission: Geschlechterrollen aufzubrechen und die Idee einer offenen, toleranten Gesellschaft auf der Straße zu propagieren. Was diese besondere Form der Kunst im öffentlichen Raum noch ausmacht und wie man subversive Botschaften in bunte Gemälde verpackt, darüber hat ARTE Creative mit Jeremy Novy gesprochen. Der Kunstsammler aus San Francisco organisierte die ersten Ausstellungen queerer Street Art und ist selbst als Künstler aktiv: Seine Koi Fische, Dragqueens und pinken, erigierten Penisse schmücken ganz San Francisco - und Stadtviertel auf der ganzen Welt.
ARTE Creative: Warum war Street Art so lange heterosexuellen Männern vorbehalten?
Novy: Die Street-Art-Szene besteht im Wesentlichen aus zwei Communities: Der Lowbrow-Art-Community, der vor allem männliche, heterosexuelle Tattoo-Künstler und Skateboarder angehören, und der Graffiti-Kultur. Beide sind, wie die meisten Minderheitenkulturen, dominiert von einer starken Abneigung gegenüber Homosexualität. Auch als heterosexuelle Frau wurde man dort lange nicht ernst genommen, geschweige denn in einer der Crews toleriert.
Sie unterscheiden sich, was Inhalte und Anliegen betrifft. Queere Street Art beispielsweise ist eine Protestform, eine Möglichkeit, queere Gedanken auf unterschiedlichste Art zu promoten. Das kann ein „queerer" Tag auf der Straße sein - in Kunstwerken kann es aber auch um AIDS und schwule Heirat gehen, oder es werden andere Themen der Ungleichheit angesprochen, mit denen Queers konfrontiert sind.
In den meisten Fällen ist der Künstler, die Künstlerin queer. In anderen aber auch nicht. Meine erste und größte Kollektion Queerer Street Art beinhaltet alles: Werke straighter, bisexueller und transsexueller Künstler, sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts. Allein die Tatsache, dass Künstler aller Formen von Sexualität und Gender in diesen Sammlungen vertreten sind, dass sie alle diese Art von Street Art repräsentieren, ist für mich ein Ausdruck von Akzeptanz und Gleichheit.
Auf wann lassen sich die ersten queeren Werke rückdatieren?Die ersten Werke, die Homosexuelle beim Sex zeigen, wurden in einem Grab in Italien gefunden. Das war die Geburtsstunde queerer Street Art. In unserem modernen Verständnis, als kritische Kunst-Bewegung, startete Queere Street Art in den 1980er Jahren in Amerika, als AIDS ausbrach und Politiker sich weigerten, das als Problem anzuerkennen. Felix Gonzalez Torres, Keith Haring und David Wojnarowicz sind die ersten, die in New York als homosexuelle Künstler aktiv waren.
Wie hoch ist heute zirka der Prozentsatz queerer bzw. feministischer Street-Art-Kunst?Als ich 2004 begonnen habe mich für das Thema zu interessieren waren es vielleicht drei Prozent, nachdem viele der Künstlerinnen und Künstler aus den 1980er Jahren an AIDS gestorben waren. Zurzeit steigt die Zahl aber stetig: Immer mehr Menschen, auf der ganzen Welt, interessieren sich für queere Street Art. Als ich später angefangen habe zu sammeln, gab es in jeder Stadt in etwa einen queeren Street Art Künstler. Mittlerweile sind es bestimmt drei in jeder Stadt. Eine genaue Zahl zu bestimmen ist aber nicht leicht, da die meisten Street-Art-Künstler ihre Identität nicht preisgeben, ihre Arbeit selten dokumentieren und so gut wie nie in Galerien ausstellen.
Neben deiner Rolle als Sammler und Kurator bist du selbst Künstler - und wurdest vor allem wegen deiner Drag-Queens, Glücksbärchen und küssenden Männer bekannt. Außerdem malst du Schwärme von Koi Fischen auf Gehwege weltweit. Haben auch sie eine Message?
Für den Entwurf meiner Koi Fische habe ich 2007 drei Monate lang zeitgenössische chinesische Kunst studiert. Die Fische male ich in Feng-Shui-Farben und ich verwende chinesische Glückzahlen wenn ich entscheide, wie viel Stück ich male. Dieselbe Technik wird für chinesische Rollbilder verwendet und mit ihr kann ikonographisch eine Bedeutung im Kunstwerk versteckt werden. Die Zahl drei repräsentiert zum Beispiel die drei Phasen eines Menschen, fünf bedeutet Veränderung, sieben steht für Beziehungen, acht für Glück. Mit diesem universellen Symbolismus haben sie also eine positive Botschaft.
Alle deine Werke sind im Pop Art Syle - eine bewusste Entscheidung?Street Art ist Pop Art. Und wenn man mit Schablonen arbeitet, verwendet man bekannte, zeitgenössische Bilder, die eine geläufige Aussage transportieren - und verändert sie so, dass sie zur politischen Message werden.
Was kommt als nächstes? Planst du eine neue Ausstellung?Im Moment arbeite ich tatsächlich an einer Soloausstellung in San Francisco. Dort will ich „gay phone sex hotline advertisments" zeigen. Die sind erotisch, mit viel nackter Haut. Aber interessant ist nicht nur der sexuelle Aspekt - diese Bilder sind gewissermaßen auch symbolisch für eine Problematik: Als die AIDS-Epidemie nämlich zum ersten Mal aufkam, waren bekannte schwule Männer besorgt, sie könnten sich damit anstecken. Zur dieser Zeit wurde „gay phone sex" zu einer Art Safersex. Und was ich darüber hinaus plane? Ich möchte natürlich weiterhin queere Street Art sammeln, aus der ganzen Welt. Mein Traum ist es, die Werke einmal in einem Buch zu zeigen.
Links: * History of Queer Street Art ( Facebook) * Jeremy Novy ( Vertical Gallery, Facebook, Tumblr) * Queer Street Art auf Pinterest * Feminist Street Art auf Pinterest
Auf Arte: * Gleiche Liebe, falsche Liebe?!? Ein Film von Peter Gerhardt Ausstrahlung am 12. Mai 2015 um 20.15 Uhr
Zum Thema: * "Hass gegen Homosexuelle" - Dossier zur Homophobie auf ARTE Info * Die interaktive Website "Easy Coming Out"